Im Auftrag der Väter
sie irgendwann vergessen musste.
Erinnern, dann vergessen.
Ben Liebermanns Runden wurden immer kürzer, je länger sie warteten, und er ging und kam immer öfter. »Wenn er wartet, bis es dunkel ist ...«, sagte er einmal.
»Falls er überhaupt kommt. Vor den bosnischen Polizisten hat er sich versteckt.«
»Vielleicht will er ja auch reden.«
Sie schwieg. Nicht die richtige Zeit für Sarkasmus.
»Er spricht kaum Deutsch, oder?«
»Ja.«
»Obwohl er fünf Jahre in Deutschland gelebt hat.«
Sie zuckte die Achseln. So viele Fragen waren offen. Würden wohl offen bleiben.
Auf eine Frage wollte sie eine Antwort. Die Sache mit dem Krieg, weshalb Ben Liebermann Deutschland wieder verlassen hatte, um in einer Stadt zu leben, in der Krieg gewesen war.
Er lachte. »Ich war betrunken, als ich das geschrieben habe.«
Sie sagte nichts.
»Ich kann es nicht erklären, Louise. Als ich in Bosnien gearbeitet habe ... Ein Land, das so wunderschön und so zerstört ist. Sarajewo, so schön, so zerstört. Ich meine nicht die Gebäude, die kannst du wieder aufbauen. Oder die staatlichen Strukturen, die Polizeien, Behörden, das kannst du alles wieder aufbauen. Aber wenn du durch Sarajewo gehst, hast du das Gefühl, dass in den Menschen etwas zerstört ist, das du
nicht
wieder aufbauen kannst.«
»Wie in Osijek?«
»Wie in Osijek.«
»Und das brauchst du?«
Ben Liebermann zuckte die Achseln. »Vielleicht weiß ich nur einfach nicht, wo ich hingehöre. Will ein bisschen untergehen zwischen zerstörten Menschen.«
»Anderen zerstörten Menschen.«
Ben Liebermann zögerte. »Wenn alles andere erledigt ist, Louise.« Er lächelte. Ging wieder eine seiner Runden drehen.
Sie sah Antun Lončar lange, bevor Ben Liebermann ihn bemerkte. Ein einzelner Mann, der plötzlich auf dem Hügelkamm aufgetaucht war, über die Felder auf sie zukam. Minutenlang blickte sie ihm entgegen, versuchte zu verstehen, warum sie nichts empfand, weder Hass noch Mitleid, keine Angst, keine Erleichterung, und warum ihr trotzdem Tränen in die Augen stiegen.
Lončar verschwand hinter Bäumen, tauchte wieder auf.
Auch Ben Liebermann, der vor dem nächsten Haus auf der Straße stand, hatte ihn jetzt gesehen. »Sag mir, was ich tun soll, Louise«, rief er.
»Warten, Ben. Einfach nur warten.«
»Wenn er eine Waffe in der Hand hat, schieße ich.«
Sie sagte nichts. Sie ging ihren Weg, Ben Liebermann seinen. Am Ende musste jeder für sich entscheiden, was das Richtige war.
Lončar schien Ben Liebermann nicht zu beachten, blickte nur in ihre Richtung. Sie sah seine Hände, keine Waffe. Die Hände verschwammen hinter Tränen, Lončar nur noch ein Schemen, ein lautloser Schatten, der über die dunklen Felder ging, und wieder, wie schon in Merzhausen, hatte sie denselben Eindruck wie Paul Niemann, dass er ein Teil dieses Ortes war, ein Teil der Felder, des Hügels, der Wälder, dass er schon immer hier gewesen war. Sie wusste nicht, warum sie das dachte, vielleicht, weil ihr inzwischen klar war, dass Lončar in einer eigenen Welt lebte, in der ihn niemand mehr erreichen konnte. Eine Welt, in der es eine Logik gab, die besagte, dass Hunderte Kilometer von hier
entfernt ein Haus niedergebrannt werden musste, weil hier ein Haus niedergebrannt worden war, zwei Frauen sterben mussten, weil hier zwei Frauen gestorben waren.
Vor der Straße blieb Lončar stehen, kaum zwanzig Meter von ihr entfernt. Sie spürte, dass er sie ansah, durch die Tränen kaum noch zu erkennen, und es kamen immer mehr Tränen, bis Lončar und die Straße und der Hügel verschwunden waren.
Als sie eine Hand in ihrer spürte, dachte sie zuerst, Ben Liebermann stünde neben ihr, aber dann begriff sie, dass es Carolas Hand war.
Die Hand begann zu zucken, Carola stürzte und sie mit ihr.
Ewigkeiten vergingen, nichts geschah. Sie spürte, dass sie auf dem Gras neben dem Auto lag, spürte noch immer Tränen über ihre Wangen laufen. In ihrem Kopf tosten Bilder und Gedanken, sie sah einen Mann über ein Feld gehen, dann war der Mann ein Kind, und das Kind lief über das Feld, entfernte sich rasch, lief und lief, ein Mädchen mit roten Haaren ... Da flüsterte eine Stimme dicht an ihrem Ohr, er ist weg, Louise, und sie öffnete die Augen und sah, dass Antun Lončar fortging, auf dem Weg, den er gekommen war, in seine Welt zurückkehrte.
Sie saßen im Gras, dicht nebeneinander, beobachteten schweigend, wie Antun Lončar immer kleiner wurde, irgendwann hinter dem Hügelkamm
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