Im Auftrag der Väter
wieder da, stand am Friedhof, vor dem zerstörten Haus. Mitte und Ende November waren Polizisten hier gewesen, das Rechtshilfeersuchen aus Deutschland, wegen der Minen hatten sie sich nicht in die Wälder getraut. Dorthin traute sich nur Antun Lončar, der wusste, welche Wege sicher waren und welche nicht.
Also nicht Osijek, nicht Poreč, dachte Louise, sondern tatsächlich Štrpci, Schutzberg, wo im November 1942 alles angefangen hatte und im April 1999 alles zu Ende gegangen war.
»Du hast ihn gefunden«, sagte Ben Liebermann.
»Ja.«
»Genügt das nicht, Louise?«
Umkehren, nach Osijek fahren, vergessen?
Sie konnte doch noch nicht vergessen.
Sie schob die Sonnenbrille ins Haar, sah Ben Liebermann an. »Ich muss meinen Weg zu Ende gehen.«
»Nein«, sagte Ben Liebermann. »Du
willst
ihn zu Ende gehen.«
Sie nickte. »Und? Kommst du mit?«
Ben Liebermann wandte sich ab, hob die Hand. »Da vorn links.«
Das Haus, in dem Antun Lončar und seine Familie unter dem Mädchennamen Biljanas gelebt hatten, war nach dem Brand nicht wieder aufgebaut worden, hatte der Bürgermeister gesagt, und so war es. Das letzte Haus im Dorf, in der Nähe des ehemaligen deutschen Friedhofs, eine Ruine, nur noch die Mauern standen, vom Feuer geschwärzt, eine der Wände von oben nach unten wie an einer Nahtstelle aufgeplatzt. Wieder ein zerstörtes Haus, dachte Louise, während sie ausstiegen, wie in Poreč. Wie in den Dörfern von Slawonien, an der Straße durch die Republika Srpska.
Wie in Merzhausen.
Sie sah die andere Ruine vor sich, das schwarze, qualmende Gerippe aus Stahlträgern, Decken, Treppe, und in ihrem Kopf sagte Carola: Ist es ganz weg? Ist alles weg?
Ben Liebermann ging um das Haus herum, sagte nichts, als er zurückkehrte, aber seine Miene war angespannt, und die rechte Hand lag auf dem Pistolenholster.
»Ben.«
»Was? Soll ich in einem Café auf dich warten?«
Sie berührte seinen Arm. »Er wird nicht kommen.«
»Er
wird
kommen. Ich kenne meine Bosnier.«
Sie musterte ihn, begriff. »Der Bürgermeister?«
Ben Liebermann nickte. Er hatte dem Bürgermeister gesagt, er habe eine Nachricht für Antun.
Die Polizistin aus Deutschland sei gekommen.
Ben Liebermann zuckte die Achseln. »Damit wir nicht tagelang warten müssen.«
Louise sagte nichts. Wieder dachte sie, dass sie jetzt gern allein gewesen wäre. Dass sie
ihren
Weg gehen wollte, nicht Ben Liebermanns Weg. Nur so konnte sie sicher sein, dass sie am Ende das Richtige tun würde.
Dass am Ende das Richtige geschehen würde.
Von dem ehemaligen deutschen Friedhof war nichts zu sehen, keine Mauern, keine Gräber. In der Nähe des Hauses befand sich lediglich ein kleines, kahles Winterwäldchen, in das ein von verdorrtem Laub bedeckter Pfad führte. Ben Liebermann ging voraus, sehr langsam und vorsichtig, womöglich auch hier noch Minen. Nach fünfzehn, zwanzig Metern sahen sie im Unterholz eine steinerne Grabplatte, ein paar Schritte daneben eine zweite. Grabsteine gab es nicht, weitere Gräber fanden sie nicht.
Ein Friedhof, der zu einem Wald geworden war.
Auch die deutschen Toten von Schutzberg waren verschwunden.
Louise kehrte zum Auto zurück, während Ben Liebermann erneut um Lončars Haus ging, ein paar Schritte die Straße hinauf ins Dorf, dann in die andere Richtung. Sie lehnte sich gegen die Beifahrertür, blickte über die Hügel, die Wälder, die Straße. Es ging gegen Mittag, der Himmel war
wolkenverhangen, immerhin regnete es nicht. Sie dachte, dass sie wieder tat, was sie im Oktober viel zu oft hatte tun müssen: auf Antun Lončar warten, ohne zu wissen, ob er kommen würde, was er tun würde. Doch diesmal war
sie
die Fremde, der Eindringling.
Sein Land, sein Dorf. Sein Leben.
Seine Toten.
»Was wirst du tun, falls er kommt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Reden, Louise? Willst du mit ihm reden?«
»Vielleicht.«
Ben Liebermann war neben sie getreten, legte die Hand an ihren Arm. »Mit einem ...«
»Nicht jetzt, Ben.«
Er zog die Hand zurück. »Mit einem Mörder reden?«
»Er ist nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Opfer.«
»Nicht laut Strafgesetzbuch.«
»Für uns schon, Ben, hier in Štrpci. Das Strafgesetzbuch zählt hier nicht. Also muss etwas anderes zählen.«
»Ich frage mich, was das sein soll.«
Sie nickte, erwiderte nichts.
»Nimm die Tokarew, Louise.«
»Nein.«
»Er hat zwei Menschen ermordet. Vergiss das nicht.«
Sie sah ihn an. Wie könnte sie das je vergessen?
Aber sie wusste, dass
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