Im Auftrag der Väter
Integration?«
Arndt Schneider nickte. Ein hausgemachtes Problem. Eine kleine Stadt in den Neunzigerjahren, rund 35 000 Einwohner, darunter Tausende Angehörige der kanadischen NATO -Streitkräfte, eher wohlhabend und wohlgelitten. Dann, 1993 , nach dem Ende des Kalten Krieges, zogen die Kanadier ab, Hunderte Wohnungen standen leer. Die Stadt kaufte die Wohnungen, stellte sie Deutschen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zur Verfügung. Inzwischen hatte Lahr um die 44 000 Einwohner, rund zweiundzwanzig Prozent davon Spätaussiedler, bei den Jugendlichen fünfundzwanzig Prozent, verteilt vor allem auf drei Wohngebiete. Im Gegensatz zu den Kanadiern waren die Spätaussiedler weder wohlhabend noch wohlgelitten. Sie waren Fremde.
Russen.
Wer Tausende »Fremde« in eine Kleinstadt holte, sagte Arndt Schneider, durfte sich nicht wundern, wenn die Integration schwierig war. Wenn die Einheimischen die Viertel »Klein-Kasachstan« nannten oder »Klein-Moskau«.
Ein hausgemachtes Problem.
»Und der Kanadaring?«
»Ein bisschen trist, ein bisschen Ghetto, hin und wieder eine Schlägerei. Ein paar Einheimische, ein paar Ausländer, drei Viertel Spätaussiedler. Und viele Vorurteile, auf beiden Seiten.«
»Klingt ja nicht so rasend schlimm.«
»Ich will es nicht schönreden, Louise. Ich will es aber auch nicht dramatisieren.« Das alte Problem, sagte Arndt Schneider – objektive Daten, subjektives Erleben. Die Angst vor dem Fremden, dem anderen, im Fall der Spätaussiedler noch verstärkt, weil hier der subjektiv Fremde behauptete, das Eigene zu sein. Der Fremde behauptete, deutsch zu sein, obwohl er nicht aussah wie – Arndt Schneider zeigte Gänsefüßchen – »ein Deutscher«, nicht sprach wie »ein Deutscher«, nicht dachte wie »ein Deutscher«, nicht aß und trank wie »ein Deutscher«, nicht kaufte wie »ein Deutscher«, seine Kinder nicht erzog wie »ein Deutscher«.
Er schürzte die Lippen, zuckte die Achseln. Ein bisschen Resignation, ein bisschen Unverständnis, ein bisschen Ungeduld, Achselzucken eben.
Ein Streifenwagen hielt neben ihnen. Arndt Schneider öffnete die Fondtür für sie. Louise drückte sie zu. »Und die objektiven Daten?«
»Statistiken«, sagte Arndt Schneider. Mehr kriminelle Spätaussiedler als kriminelle Einheimische? Nein. Mehr arbeitslose Spätaussiedler als arbeitslose Einheimische? Nein. Die Spätaussiedler kassierten mehr Rentenbeiträge, als sie einzahlten? Nein. »Wirkliche Probleme haben wir nur mit den jungen Männern. Drogenkonsumenten, Drogentote, Alkoholkranke, Gewaltdelikte, Diebstähle – da liegt die Quote der Russlanddeutschen über der der Einheimischen.« Arndt Schneider breitete die Arme aus. Kein Wunder, oder? Entwurzelung, Verlust des Selbstwertgefühls, der Heimat. Mit zehn, zwölf Jahren aus dem sozialen Umfeld herausgerissen, in ein fremdes Land verfrachtet, dessen Sprache sie nicht oder nur ungenügend beherrschten, abgestempelt
als Russen, Menschen zweiter Klasse. »Da müssen sich weder die Politiker wundern noch die Eltern, die ihren Kindern so was antun«, sagte Arndt Schneider. »Ich muss zurück, Louise. Besprechung.«
Louise öffnete die Fondtür. Sie dachte an das gelbe Fahrrad und den kleinen Jungen. An das kahle, kalte Büro, in das Arndt Schneider nun zurückkehren würde.
In dem weitgehend alles in Ordnung war.
»Also dann.«
»Komm mal wieder vorbei.«
Sie nickte.
»Auf die alten Zeiten anstoßen.«
Sie reichten sich die Hand, küssten sich links, rechts.
»Danke für die Hilfe.«
»Aber ich bitte dich.«
Sie stieg ein. »Wenn die Erinnerung wiederkommt ...«
»... melde ich mich.«
»Oder ich.« Sie lächelte. »Hey, der Bombast in deinem Kopf heißt Barclay James Harvest.«
»Barclay James Harvest ... War nicht ›Hymn‹ von denen?«
»Ja, zum Beispiel.«
Arndt Schneider nickte lächelnd, deutete auf seinen Kopf, da tat sich was, endlich tat sich da was, und sie nickte ebenfalls, auch bei ihr.
»War da nicht was mit einem Balkon, Louise? Mit einem Balkon und einer nackten Frau in Polizistenstiefeln?«
Sie grinste. »Und einem nackten Mann im Treppenhaus, Arndt Schneider«, entgegnete sie und schloss die Tür.
7
SIE FOLGTEN EINER SCHNURGERADEN STRASSE Richtung Bahnhof. Außerhalb des Zentrums fand Louise Lahr ein wenig beliebig, ein wenig unsortiert. Hier und dort höhere Wohnhäuser, dann wieder Altbauten, Industrieflächen, Autohändler. Eine Mischung aus Stadt und Peripherie, ohne Klammer, ohne Masterplan. Die
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