Im Auftrag der Väter
Straße blieb gerade, zog sich endlos hin, zwei Kilometer mochten es sein, bis der Kollege die Hand hob und nach draußen wies – der Kanadaring.
Wieder veränderte Lahr sein Gesicht. Schräg zur Straße einfache beigefarbene Reihenhäuser, drei Stockwerke hoch, eines neben dem anderen, alle gleich geschnitten und gleich gestrichen, dazwischen Bäume und Grünflächen, achteckige Wohntürme, breite Häuser mit Laubengängen aus alten Filmen, alten Zeiten.
Und überall weiße Gardinen hinter den Fenstern.
Der Kollege hielt am Straßenrand. Louise stieg aus, ließ sich das K 2 zeigen, das sich in einem der uniformen Reihenhäuser befand. Während sie auf die Haustür zuging, dachte sie, dass irgendetwas nicht stimmte. Der Mann, den sie suchte, passte nicht zu Reihenhäusern, Laubenganghäusern, weißen Gardinen. Zu Sprachkursen, Integrationsprogrammen, zu Männern mit Gehstock und Schiebermütze, die am Vormittag im Zentrum von Lahr standen, über Russland, Kasachstan, Sibirien sprachen.
Sie trat durch eine offenstehende Tür, stieg in den ersten Stock, drückte auf eine Klingel. Ein alter Krieger in Freiburg, ein harmloser Alter am Kanadaring?
Nein. Der Mann, den sie suchte, passte nicht zum Kanadaring.
Was andererseits nicht hieß, dass er nicht früher einmal hierher gepasst hatte und dann zu dem geworden war, der er war.
Einem Mann, der vielleicht nirgendwo mehr hinpasste.
Kurz darauf saß sie an einem überfüllten Schreibtisch in einem überfüllten Büroraum, rührte schwarzen Tee um, hielt einen kleinen Teller mit zwei Stück Marmorkuchen auf dem Schoß. Die Müdigkeit war wieder da und dieses Gefühl: Etwas stimmte nicht.
Der Kanadaring und der alte Krieger, etwas stimmte da nicht.
Auf der anderen Seite des Schreibtischs saß Sophie Iwanowa, eine energische, goldblonde Kasachin, nein: Deutsche aus Kasachstan im hellblauen Wollkostüm. Sophie Iwanowa, Ende dreißig, Lehrerin für Physik in Kasachstan, in Deutschland Putzfrau, Altenpflegerin und schließlich, seit zwei Jahren, städtische Angestellte der Allgemeinen zweisprachigen Sozialberatung für Spätaussiedler/-innen, kurz K 2 . Die Mutter Wolgadeutsche, der Vater Russe, sagte Sophie Iwanowa ein bisschen routiniert, als schickte sie dies immer zur Erklärung voraus, wenn sie mit Einheimischen sprach. Die Mutter hatte zeit ihres Lebens nach Deutschland gewollt, der Vater nicht, als der Vater gestorben war, gingen sie, die Mutter und die Tochter.
Sophie Iwanowa lächelte, nickte, zuckte die Achseln, so war das, verstehen Sie, deshalb bin ich hier. Sie sprach
schnell, konzentriert und fast akzentfrei. Hände, Arme, Schultern, Kopf waren ständig in Bewegung, die Haare flogen, ein fröhlicher goldblonder Wirbel zwischen all den leblosen Regalen, Büchern, Mappen, Ordnern, Karteikästen, Papieren. Hier, so kam es Louise vor, war die fremde, geheimnisvolle Welt Kanadaring auf wenigen Quadratmetern konzentriert. Tausende Menschen, Daten, Schicksale. Jahrzehnte, Jahrhunderte zwischen Ost und West.
»Ihr Deutsch ist klasse«, sagte sie.
»Ihres auch«, sagte Sophie Iwanowa.
»Meines auch?«
Sophie Iwanowa strahlte, gestikulierte. »Louise Bonì ist ein franzosischer Name, nicht wahr?«
Louise nickte. Meines auch? Tief in ihr regte sich ein hässliches Gefühl. Ärger?
Tief in ihr regte sich Ärger.
Ein Scherz, Bonì, war doch nur ein Scherz.
Ein Scherz, der etwas Fundamentales anzweifelte. Der ihr etwas
wegnahm.
Ein Scherz, der irgendeine unausgesprochene Zuordnung durcheinandergebracht hatte. Ich gehöre dazu. Du nicht.
Ihr
nicht.
So ein Quatsch, dachte sie. Scherz ist Scherz, nicht mehr.
Aber der Ärger wollte bleiben.
Sophie Iwanowa schenkte Tee nach, schob den angeschnittenen Kuchen zu Louise, fragte im Plauderton: »Franzosische Eltern?«
»Vater Franzose, Mutter Deutsche. Der Vater wollte zeit seines Lebens Deutscher sein und lebt in Kehl, die Mutter wollte zeit ihres Lebens Französin sein und lebt in der Provence.« Louise zuckte die Achseln, tja, so ist das, verstehen Sie. Sie trank einen Schluck Tee, aß ein Stück Kuchen. Nur ein Scherz, Bonì.
»Wie bei mir und ganz umgekehrt«, sagte Sophie Iwanowa. »Die Mutter wollte Deutsche sein, der Vater wollte Russe bleiben.« Sie lächelte. »Und Sie? Was wollen Sie sein?«
Da war sie, die Frage hinter dem Scherz. Ein Scherz mit einem ganzen Rattenschwanz an Fragen. Was wollen Sie sein? Wissen Sie, dass Sie nicht wirklich dazugehören? Wo wollen Sie dazugehören? »Hab nie drüber
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