Im Auftrag der Väter
nachgedacht und werde jetzt nicht damit anfangen.«
»Gut. Das gefällt mir. Einfach die Straße hinuntergehen.«
»Ja.«
»Mein Mann kann das nicht. Er geht in Kreisverkehr und kommt nicht raus.« Sophie Iwanowa lächelte. »Er ist Russe. Er wollte nicht nach Deutschland, wie mein Papa. Er geht noch immer in Kreisverkehr in Kasachstan. Noch Tee, Louise? Kuchen?«
»Nein, danke.«
»Russische Männer sind manchmal schwierig. Voller Angst. Wie mein Papa und mein Mann. Geht es ihnen gut? Nein! Aber sie wollen nichts ändern. Sie haben Angst, etwas zu ändern. Sie bleiben lieber in Kreisverkehr. Gehen kreisverkehrt.« Sophie Iwanowas große dunkle Augen funkelten vergnügt, ihre Hände, die inzwischen wie durch Zauberei eine brennende Zigarette hielten, fuhren durch die Luft. »So ist das, Louise.«
Der Ärger war verflogen. Er hatte sich noch einen Moment lang gehalten, jetzt hatte er sich gelegt. Hatte sich in die Sümpfe und Moraste des Ungeklärten zurückgezogen.
Wartete auf den nächsten Scherz.
»Sie sind geschieden?«
»Oh, nein! Ich liebe meinen Mann. Lieben wir Frauen
nicht immer Männer, die kreisverkehrt gehen, Louise? Er fliegt dreimal in Jahr in meine Heimat, ich fliege dreimal in Jahr in seine Heimat. Wir sind moderne deutsche-russische-kasachische Ehepaar auf Distanz, so ist das.«
Louise musste lachen. Sophie Iwanowa lachte mit.
»Und die Sprache, Louise! Kasachisch!« Sophie Iwanowa schlug sich stöhnend die Hand gegen die Stirn. »Früher Russisch war Amtssprache von Kasachstan. Seit Ende von Ud SSR es ist Kasachisch. Ich spreche nicht Kasachisch. Es ist sehr schwer, es ist eine türkische Sprache, keine slawische Sprache. Die Schule, wo ich gab Unterricht, wollte, dass ich mit Schülern Kasachisch spreche. Ich sage, ist doch egal, ob Newtons Apfel fällt auf Russisch oder auf Kasachisch, wenn er halt bloß fällt! Der Direktor sagt, später oder früher musst du unsere Sprache lernen, sonst musst du gehen. So bin ich gegangen.« Sophie Iwanowa drückte die halb gerauchte Zigarette aus. »Sie sprechen beides? Deutsch und Franzosisch?«
Louise seufzte, stellte den Teller auf den Tisch, nickte. In Deutschland geboren, da hatte sich der Vater durchgesetzt, zweisprachig aufgewachsen, da hatte sich die Mutter durchgesetzt ...
»Kommen wir zum Thema, Frau Iwanowa.«
»Sophie.«
»Sophie.«
»Aber wir sind beim Thema!« Sophie Iwanowa hatte die Hände gehoben, die Finger in alle Richtungen abgespreizt, als wollte sie auf die Karteikästen und Unterlagen und Menschen und Schicksale deuten, die in diesem Raum gesammelt worden waren. »Heimat«, sagte sie. »Gibt es kein anderes Thema für uns.«
Louise nickte. Natürlich. Vertrieben, deportiert, ausgewandert,
eine Heimat verloren, eine andere gefunden. Nichts anderes konnte da zählen als Heimat. »Ich verstehe.«
Sie hatte nicht verstanden.
»Für uns
alle,
Louise«, sagte Sophie Iwanowa. »Sie, mich, die Einheimischen, meine Landsleute. Die einen wissen, die anderen wissen nicht. Für uns alle.«
»Also gut. Sophie, ich habe nicht viel Zeit. Wissen Sie, weshalb ich hier bin?«
Sophie Iwanowa nickte. Arndt Schneider hatte es erwähnt. Hast du Zeit für eine Kripokollegin aus Freiburg? Sie sucht einen Mann. Vielleicht kennst du ihn.
»Einen Mann, der möglicherweise Spätaussiedler ist«, sagte Louise.
»Sehen Sie, es geht um Heimat.« Sophie Iwanowa lächelte, aber das Lächeln zitterte. Sie lehnte sich vor. »Sie suchen einen Mann, Louise, wir haben einen Mann verloren.«
Ein älteres Passfoto, ein paar Wörter, Zahlen, Daten auf einer Karteikarte, ein Name, ein vages Gefühl: Ja, möglicherweise.
Die Haare stimmten, die Kopfform stimmte. Die Nase vielleicht. Ein schmales, knochiges Gesicht, schmaler als das des Mannes, den sie suchten. In den Augen lag etwas Dunkles, Müdes, Kaltes.
Johannes Miller, geboren 1940 in Friedental/Russland. 1941 Deportation der Familie nach Sibirien. Jugend in Krasnojarsk /Sibirien. Anstellung im Lokomotivwerk Krasnji Profintern. 1965 verheiratet, 1966 verwitwet. Keine Kinder. Mit der Familie der Schwester 1970 nach Karaganda in Kasachstan. Mit der Familie der Schwester 1996 nach Deutschland. Friedland, weitere Aufnahmelager, schließlich Kanadaring /Lahr.
»Friedental, Friedland«, sagte Sophie Iwanowa.
Louise nickte.
»Leider keine gute ... wie sagt man?«
»Omen.«
»Ja.«
Louise überflog die Karteikarte erneut. »Wapolwo« stand nicht darauf. Sie betrachtete das Gesicht, dachte wieder:
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