Im Auftrag der Väter
Carola stand auf.
Louise fragte, ob sie etwas tun könne. Ob sie helfen könne. Carola schüttelte den Kopf.
Schweigend gingen sie hinunter. In der Diele gaben sie sich die Hand.
»Kann ich auch eine Karte haben?«
»Natürlich.« Louise zog eine Visitenkarte hervor, schrieb ihre Privatnummer darauf.
»Sie haben sie in der Hosentasche.«
»Klar. Ich bin eine moderne Praktikerin.«
Carola lächelte, und für einen Moment lächelten die dunklen, klugen Augen mit.
Keine neuen Feinstaubwüsten, dafür zahllose Haarrisse in der Flurwand zum Treppenhaus, ein merkwürdiges Muster aus vertikalen und schrägen Zickzacklinien, als hätte die
Wand oder vielleicht sogar das ganze Haus begonnen, sich zu bewegen.
So konnte es nicht weitergehen. Sie musste weg. Sie brauchte keinen Balkon. Sie brauchte ein Zuhause. Und bis dahin ein Zimmer in der Akademie. Oder bei Anne Wallmer?
Jenny Böhm hatte nicht angerufen.
Dafür hatte der kleine Germain angerufen. Er wollte wissen, ob das jetzt ging mit dem Wochenende. »Scheiße«, sagte Louise. Sie hatte den kleinen Germain vergessen.
Sie wählte die Kehler Nummer. Ihr Vater nahm ab.
»Schade, er hatte sich so gefreut.«
»Scheiße.«
»Meinst du nicht doch, dass du es einrichten kannst, Chérie?«
»Nicht dieses Wochenende.«
»Ach, das ist ja wirklich schade.«
Sie sagte nichts. Ihr komischer, grauer, französischer Vater und dieses akzentfreie, überlegte, steife Deutsch. Immerhin wusste er, wo er hingehören wollte. Welches Land seine Heimat war.
Ich weiß es doch auch, dachte sie.
Sie legten auf.
Beim Essen zog sie die Unterlagen zu Valpovo heran. Aber sie war zu müde für die weiten Wege in den Osten, aus dem Osten. Sie starrte auf die schwarzen gezackten Linien in der Wand, auf die Metalltür gegenüber. Was war mit ihrem Leben passiert? Alles ging aus den Fugen. Seit Monaten lebte sie in einem Provisorium, weil sie sich nicht vertreiben lassen wollte. Nicht akzeptieren wollte, dass geschah, was geschah.
Die Realität nicht akzeptieren wollte.
Das ist die Realität, dachte sie. Was anderes gibt es nicht.
Der Gedanke gefiel ihr, und sie dachte eine Weile darüber nach.
Dann ging sie ins Bett.
10
MITTEN IN DER NACHT fuhr sie aus dem Schlaf. Sie hatte geträumt, dass sich das Haus weiterbewegte. Dass die Mauern auseinanderbrachen. Aber der Traum hatte sie nicht geweckt.
Beide Telefone klingelten.
Sie rannte ins Wohnzimmer, erwischte das Handy.
Carola, die weinte. Abrupt fort war.
Sie riss das Mobilteil aus der Station. Wieder eine Frauenstimme, Hesse, die Kollegin von der Schutzpolizei. Im Hintergrund Rufe, Schreie und Geräusche, die sie nicht deuten konnte.
Hesse sagte etwas, aber es ging im Lärm unter.
»Was?«
»Sie sollten kommen!«
»Scheiße, wohin?«, rief sie.
Als hätte sie das nicht längst gewusst.
Schon im Vauban sah sie den Widerschein des Feuers und Blaulicht aus allen Richtungen. In Merzhausen hatten Schutzpolizisten den Verkehr gestoppt, damit die Einsatzwagen ungehindert durchfahren konnten. Die Kollegen winkten sie weiter, der bunte Mégane, den kannte man wohl mittlerweile.
Aber sie kam nicht bis zum Haus, Dutzende Wagen von Feuerwehr, Polizei, Rettung versperrten den Weg und immer
mehr Menschen. Sie sprang aus dem Auto. Der Himmel stand in Flammen. In der Luft lag der Geruch von verbranntem Benzin.
Mein Haus, das ist mein Haus, sagte eine Stimme in ihrem Kopf, während sie rannte.
Er hatte sein Haus angezündet.
Der Wall aus Menschen wurde immer dichter. Sie schob und stieß und schimpfte, dann hatte sie die Gasse erreicht, die von den Kollegen der Schutzpolizei freigehalten wurde. Sie wies sich aus, rannte weiter, ein schwarzes, qualmendes Gerippe im Scheinwerferlicht vor Augen, ein paar Stahlträger, die Decken, die Treppe, alles andere verbrannt, geplatzt, eingestürzt, das Nachbarhaus in Flammen, selbst das nächste Haus brannte. Häuser aus Holz und Glas, durch die sich die Flammen und das Löschwasser frästen, jetzt war der Albtraum wahr geworden, an den sie vorgestern gedacht hatte, alles so hübsch und heimatlich und friedlich und zerstört. Sie zerrte einen Schutzpolizisten mit sich, aber der wusste nicht, was mit den Niemanns war. Ein Feuerwehrmann zeigte auf einen Sanitätswagen, im Heck saß Paul Niemann, ein krummer, regloser Körper unter einer hellblauen Decke, eine uniformierte Kollegin war bei ihm, das musste Hesse sein. Dann sah sie Henriette Niemann, die ein paar Meter weiter im Morgenmantel
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