Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Auftrag der Väter

Im Auftrag der Väter

Titel: Im Auftrag der Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
Vom Netzwerk:
immer noch nicht, weshalb.
    »Sie sind bei einem Freund. Einem Therapeuten«, sagte Carola.
    Louise nickte. Carola schwieg.
    »Vielleicht wird es wieder. Wenn sie Hilfe bekommen. Eine Therapie hilft bestimmt.«
    »Ja«, sagte Carola.
    »Und wenn das vorbei ist. Wenn wir ihn haben.«
    »Ja.«
    Die Sätze hallten in ihrem Bewusstsein nach. Vielleicht wird es wieder, eine Therapie hilft bestimmt. Ihr wurde klar, dass sie diese Sätze kannte. Irgendjemand hatte ähnliche Sätze zu ihr gesagt. Unsinnige Sätze. So naheliegend, so leer. Schon damals, in den Siebzigern, als die neuen alten Heilslehren die Mittelschicht erreicht und die halbe Nation infiziert hatten. Gurus aus dem Osten, Therapeuten aus dem Westen, und dann würde alles gut werden. Sie hatte am Küchentisch gelehnt, ihre Mutter hatte vor ihr gestanden, die
Hände ringend und flehend, wenn ihr mitmacht, wenn wir alle zusammen eine Familientherapie machen, dann ...
    Wenn wir nach Frankreich gehen, nach Paris, dann ...
    Dann. Dann wird alles gut. Dann, das Zauberwort.
    Sie trat an das Panoramafenster. Der Garten, die Felder, der Schönberg lagen im Dunkel. Irgendwo unter ihr hockten ein paar Jugendliche und glaubten, sie könnten einen Mann aufhalten, der einen asymmetrischen Krieg führte. Andererseits, große, zappelige pubertierende Schlakse an einem Oktoberabend unter Büschen und im Ackerschlamm, was war asymmetrischer?
    Ob er jetzt da draußen war? Aus der Finsternis das hellerleuchtete Haus beobachtete?
Sie
beobachtete?
    Sie dachte, dass ihr längst die Fäden entglitten waren. Paul Niemann, der nach Landwasser fuhr und nach Lahr. Jugendliche, die die Arbeit der Polizei übernahmen. Ein Mann, der tat, was sie nicht erwarteten, ihnen immer einen Schritt voraus war.
    Eine Familie, die zerfiel. Aber da war sie machtlos.
    Sie wandte sich um und bat Carola, die Freunde nach Hause zu schicken, wenn die Eltern zurück waren. Auch die, die da draußen im Gras und unter den Büschen lagen. Carola lachte freudlos, ach die, die spielen doch nur. Aber sie versprach es.
    »Hör mal, dieser Mann ...«
    »Der interessiert mich nicht«, brach es aus Carola heraus.
    »Er sollte dich schon interessieren.«
    »Ich meine, ich weiß, dass Sie ihn kriegen. Dass ich mir wegen ihm keine Sorgen machen muss.«
    »Du machst dir Sorgen wegen deiner Eltern.«
    Carola hatte die Hände in die hinteren Hosentaschen geschoben, stand breitbeinig da. Die wilden roten Haare ein
Panzer aus Stacheln, die Augen dunkel und klug, der Mund schien wütend zu fragen: Wie kann ich verhindern, was geschieht?
    Auch ihr waren die Fäden entglitten.
    Eine Sechzehnjährige, die sich verantwortlich fühlte.
    »Mama will weg. Weg von uns.«
    »Hat sie das gesagt?«
    Carola setzte sich auf das Sofa, eine Hand auf der Lehne, eine im Schoß. An allen zehn Fingern waren schmale bunte Ringe. »Nein, aber es ist total offensichtlich.«
    Louise sagte nichts, dachte nur: wenn die Liebe vorbei war. Der stumme Dialog mit Henriette Niemann, das mit der Liebe?, kein Wort kommt über meine Lippen. Galt das auch für dieses Gespräch mit Carola? »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie weggeht, solange ihr beiden noch in der Schule seid. Solange ihr noch hier wohnt.«
    »Ja. Schon. Aber jetzt ...«
    »Jetzt?«
    Carola nickte in Richtung Fenster. »Jetzt geht alles schneller. Dieser Mann, er ist ... ich weiß nicht.«
    »Er ist?«
    »Philip sagt, er ist so was wie ein Symbol. Er ist das, was innen kaputt ist und jetzt von außen kommt. Also, innen in unserer Familie. Verstehen Sie?«
    Louise nickte verblüfft.
    »Der innere Zerfall, nach außen verlagert. Sagt Philip. Er ist ein moderner Mystiker, er denkt so.«
    »Ein moderner Mystiker?«
    Carola lächelte. »Sagt er.«
    »Was ist ein moderner Mystiker?«
    »Keine Ahnung.«
    »Dein Bruder braucht Hilfe.«
    »Ich weiß.«
    »Psychologische Hilfe.«
    »Ich weiß.«
    »Er sitzt mit dieser deprimierenden Musik in der Dunkelheit und verliert den Kontakt zur Realität.«
    »Na ja, die Realität ist eben scheiße.«
    »Schon klar.«
    Carola zuckte die Achseln.
    »Denkst du auch so? Dass der Mann ein Symbol dafür ist, dass eure Familie kaputtgeht?«
    »Nein. Aber ich denke, dass jetzt alles viel schneller geht. Meine Eltern haben Angst, und weil sie Angst haben, verlieren sie die Kontrolle über sich. Jetzt kommt alles raus. Alles, was kaputt ist innen.«
    Von unten, aus der Diele, erklangen Stimmen. Die Schlakse riefen nach Carola. Lachten, riefen »Caro!«.
    »Na ja.«

Weitere Kostenlose Bücher