Im Auftrag der Väter
Sorgen, Erkältung, wer’s glaubt, wird selig.
Sie setzte sich aufs Fensterbrett, las im hellen Sonnenschein, was Alfons Hoffmann schon am Vortag an allgemeinen Informationen über die Deutschen aus Jugoslawien zusammengestellt hatte, nickte in der Wärme ein,
träumte von zahllosen gesichtslosen Schemen, die hölzerne Schiffe betraten, davonfuhren, in fremden Städten von Bord gingen, zu Fuß oder mit dem Planwagen weiterreisten und dann, nach Tagen oder Wochen oder Jahren, in einen Ort namens Valpovo gelangten, wo sie sich niederließen, Valpovo, träumte sie, wie schön das klang, die erste Silbe kurz und leicht, die zweite schwer, mit dem Gewicht der Betonung,
Valpovo
, so italienisch klang das, und so sah Valpovo in ihrem Traum auch aus, eine lichte italienische Zitronenstadt unter blauem Himmel an einem stillen Meer. Sie träumte, dass sie selbst eines Tages in diese Stadt am Meer reisen würde, inmitten zahlloser gesichtsloser Schemen ein hölzernes Schiff betreten, davonfahren, in der Fremde von Bord gehen und nach Valpovo gelangen würde, und es war ein merkwürdiges Gefühl im Traum, eine unerklärliche Sehnsucht, aber nicht nach einem Ort, sondern nur nach seinem Namen, nach dem Wort »Valpovo«, und als sie im Traum in dem Ort stand, wurde aus der Sehnsucht Trauer, weil sie begriff, dass man ein Wort nicht bereisen, dass man in Orten, nie aber in Wörtern ankommen konnte.
Sie erwachte.
Valpovo 1945 , vielleicht der Anfang.
Der Anfang
einer
Geschichte. Eine andere mochte viel früher begonnen haben, im 18 . Jahrhundert auf einem Donauschiff in Ulm.
Nachdem sie sich das Gesicht gewaschen hatte, trat sie ans Fenster, dachte an Paul Niemann und an München, daran, dass so viele Informationen fehlten, dass sie nun warten mussten. Bei fast jedem Fall kam irgendwann die Phase des Wartens, und sie hasste diese Stunden oder Tage, in denen man nicht viel mehr tun konnte, als zu warten,
warten, warten, während irgendwo irgendwer irgendwelche Spuren zusammentrug, um irgendwann Unterlagen oder Ergebnisse herzuschicken oder auch nicht.
Sie nahm die Tasche, zog eine Wasserflasche aus einer Schublade, dachte, na gut, wenn schon nicht Valpovo, dann wenigstens mal München.
»Ist nicht dein Ernst«, sagte Alfons Hoffmann, der damit beschäftigt war, von seinem Stuhl aus das Gebüsch in der Ecke seines Büros mit einer roten Gießkanne zu wässern.
»Zwischen vier und halb fünf, falls es später wird, rufe ich an.«
»Ist nicht dein Ernst.«
Louise deutete auf eine Yuccapalme. »Läuft über.«
»Herrschaftszeiten!« Alfons Hoffmann rollte auf dem Stuhl zum Waschbecken, kehrte mit einem Lappen zurück, wischte schnaufend mit dem Fuß trocken. Den nassen Lappen vor sich haltend, rollte er wieder zum Waschbecken. »Was soll ich Rolf sagen?«
»Dass ich in München bin und am späten Abend zurückkomme.«
»Ist nicht dein Ernst.« Alfons Hoffmann wusch und wrang den Lappen aus, legte ihn sorgsam über den Waschbeckenrand. Da war viel Ordnung, Sorgfalt und Achtung für das Unbedeutende in dem, was Alfons Hoffmann tat, dachte Louise. Vielleicht war er deshalb ein guter Hauptsachbearbeiter. Waren all die wesentlichen und unwesentlichen Details eines Verbrechens deshalb bei ihm so gut aufgehoben. »Er hat nämlich gesagt, niemand fährt nach München.«
»Ich hab’s gehört.«
»Er ist der Chef.«
»Er ist frustriert.«
»Und?«
»Frustrierte Chefs treffen falsche Entscheidungen.« Alfons Hoffmann grinste düster. Louise deutete auf die Yuccapalme. »Läuft immer noch.«
»Herrschaftszeiten!« Die Roll- und Reiningungsprozedur wiederholte sich. Schwer atmend rollte Alfons Hoffmann an den Schreibtisch zurück.
»Rufst du jetzt in München an?«
»Ja, ja, jetzt ruf ich in München an.«
Sie bedankte sich, ging, dachte im Flur des D 11 , wie merkwürdig, nun kam die Revolte doch wieder von ihr.
Natürlich war es ihr Ernst. Statt zu warten, warten, warten, womöglich bis zum nächsten oder übernächsten Tag, holte sie, was sie brauchten, mochte Rolf Bermann auch Zeter und Mordio schreien. Sie begegnete ihm nicht auf dem Weg nach unten, auch im Hof sah sie ihn nicht. Vielleicht saß er wieder bei Bob und hörte sich dessen kühle Kritik an und grübelte über eine Revolte und das Leben an den Rändern nach. Sie dachte, dass sie durchaus Lust hatte, ihm bei einem Bier davon zu erzählen – er Bier, sie Wasser –, vom Leben an den Rändern, und wie man es da aushielt, da war sie ja Expertin. Sie
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