Im Auftrag der Väter
Niemann, falls der Mann, den sie suchten, als Bürgerkriegsflüchtling in München gelebt hatte. Schmerzen, die sich vielleicht für immer ins Gedächtnis des alten Kriegers gebrannt hatten: aus der neuen, sicheren Heimat fortgeschickt zu werden? Nicht zuletzt ein mögliches Motiv: Rache.
Das ist mein Haus, dachte sie. Das ist jetzt mein Haus.
Du hast mir mein Haus weggenommen, jetzt nehme ich dir deines weg?
Sie fragte sich, wie viele Fälle Paul Niemann in den zwei, drei Monaten bei der Ausländerbehörde bearbeitet hatte. Fünfzig? Zweihundert? Fünfhundert? Sie hatten keinen Namen, nur ein verschwommenes Gesicht, ein ungefähres Alter, Fingerabdrücke. Sie hatten die Gravur in dem Zigarettenetui, »Valpovo 1945 «. Die deutsche Spur.
Sie mussten die relevanten Münchner Unterlagen von 1998 – sofern sie noch existierten – sichten. Sie mussten Paul Niemann dazu bringen, mit ihnen über München zu reden.
Über Dinge zu reden, die in München nicht geschehen sein konnten.
Sie trank einen Schluck, Kaffee ohne Zucker, wie sie das hasste.
Ein alter Krieger, ein Krieg. Irgendwann in den Neunzigern die Flucht nach Deutschland, nach München. Jahre später bekam in einem Behelfsbüro der Münchner Ausländerbehörde ein Sachbearbeiter Formulare in die Hand und veranlasste die Rückführung des Flüchtlings nach Bosnien. Wieder ein paar Jahre später tauchte der Flüchtling in einem Garten in Merzhausen bei Freiburg auf, stellte ein Ultimatum, zündete ein Haus an.
War das die Geschichte?
»Wir müssen mit Ihrem Mann sprechen«, sagte Mats Benedikt zu Henriette Niemann.
»Ja.«
»Nicht jetzt«, sagte Louise. »Er wird jetzt nicht reden.«
»Nehmen wir ihn mit.«
Louise schüttelte den Kopf. »Er wird nicht reden, Mats. Noch nicht.«
Sie sahen sich an. Mats Benedikt zuckte die Achseln.
»Wir besorgen uns die Unterlagen aus München, dann sprechen wir mit ihm.«
Er nickte.
Henriette Niemann begleitete sie zur Tür.
»Ich komme gleich«, sagte Louise, und Mats Benedikt nickte erneut und ging voraus. Sie sahen ihm schweigend nach, sahen zu, wie er das Türchen des Vorgartens öffnete, in den Wagen stieg.
»Ich werde Carola bitten, mit ihrem Vater zu sprechen«, sagte Henriette Niemann schließlich.
Louise schwieg.
»Er hört auf sie.«
»Ja.«
Sie sahen sich an.
»Ihre Kinder brauchen professionelle Hilfe, Henriette. Auch Carola.«
Henriette Niemann strich sich Stoffflusen vom Arm. »Wir werden es schon schaffen.«
»Nein«, sagte Louise.
»Wir brauchen nur ein wenig Zeit. Wir kriegen das in den Griff.«
»Sie schon. Ihre Kinder und Ihr Mann nicht.«
»Wieder eine Ahnung?« Henriette Niemann lächelte distanziert.
Louise nickte. »Und die Erfahrung.«
Mats Benedikt telefonierte mittlerweile. Sie wusste, dass er mit Alfons Hoffmann sprach, ihn in Bezug auf München informierte – der alte Krieger, Paul Niemann und das Sachgebiet 312 BKF . Sie überlegte, was » BKF « bedeuten mochte, dann begriff sie, natürlich, »Bosnienkriegsflüchtlinge«.
»Ich schicke Ihnen Hartmut Prader«, sagte sie.
»Nein. Noch nicht.«
Louise seufzte.
Sie gaben sich die Hand. Henriette Niemanns Hand war kalt und hart. »Wie werden Sie meinen Mann schützen?«
»Vorläufig, indem wir die Anzahl der Streifen erhöhen. Alles andere müssen wir uns noch überlegen.«
»Überlegen Sie nicht zu lange.«
Sie sahen sich schweigend an. Louise wusste, woran Henriette Niemann dachte, und war ihr dankbar dafür, dass sie es nicht aussprach – denn wir haben
keine
Zeit.
12
» AHNUNGEN «, SAGTE MATS BENEDIKT . Es klang weder skeptisch noch kollegial. Vielleicht klang es ein wenig nachdenklich.
»Ja?«, sagte Louise.
Sie fuhren durch Au, durch Merzhausen, die Farben des Vauban leuchteten im plötzlichen Sonnenlicht. Eine Explosion von Sonne und Licht nach einer Woche Regen und Grau, von Wärme.
Mats Benedikt sprach nicht weiter. Louise hatte ohnehin keine Lust, über Ahnungen zu reden, Ahnungen zu rechtfertigen, das war doch nun wirklich nicht mehr nötig, dass man Ahnungen rechtfertigen musste, Mats Benedikt, wir Polizisten wissen doch nun wirklich, wie wichtig Ahnungen sein können.
Sie war ein bisschen traurig, aber nicht wegen der Ahnungen, sondern, stellte sie überrascht fest, weil sie Carola an diesem Morgen nicht gesehen hatte. Sie hätte sie gern in die Arme genommen, diesmal, um Kraft zu geben, nicht zu nehmen. Sie hätte ihr gern gesagt, wie leid es ihr tat. Dass sie etwas geahnt hatte, dass sie hätte
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