Im Auftrag der Väter
MEK -Leute ins Obergeschoss rannten, wieder Rufe, Entwarnung, dann stand sie in einem kleinen Flur, in dem es nach Alter und Krankheit roch, und hörte eine ruhige, tiefe, wunderschöne Männerstimme sagen: »Mit wem von Ihnen kann ich sprechen? Ich möchte mit jemandem sprechen, der keine Waffe auf mich richtet.«
Andreas Eisenstein stand in der Mitte seines Wohnzimmers, umgeben von einem Wall aus MEK -Männern, ein großer, hagerer Mann mit weißem Haar, gekrümmtem Rücken, Gesicht, Hals, Hände von braunen Altersflecken übersät. Er hielt eine schluchzende Frau im Arm, die Kroatin oder Bosnierin sein mochte, vielleicht auch Serbin, so genau kannte Louise sich mit der Physiognomie der ehemaligen
Jugoslawen noch nicht aus. Er tätschelte ihren Arm, redete mit dieser wunderschönen Stimme auf Kroatisch oder Bosnisch oder Serbisch leise auf sie ein, während Hermann Fried, Bob und Pauling vor ihm standen und sich flüsternd besprachen.
Hermann Fried und Bob hatten Eisenstein mit wenigen Worten erklärt, weshalb an einem verregneten Oktobernachmittag eine Armada von Polizeibeamten in sein Haus eingedrungen war, hatten nach Antun Lončar gefragt, kennen Sie einen Mann dieses Namens, stehen Sie in Kontakt mit ihm.
Eisenstein hatte nur genickt, sich dann der Frau zugewandt.
Endlich gab Pauling seinen Leuten Befehl, die Waffen herunterzunehmen, dann bedeutete er dem Kommandoführer, die Männer draußen zu sammeln. Hermann Fried schickte die Lahrer zurück in die Dienststelle, nur er selbst, Pauling und die Freiburger blieben. Von einem Moment auf den anderen kehrte wieder Ruhe ein in das Wohnzimmer, nur das Schluchzen der kleinen Frau, Eisensteins tröstende Worte und das leichte Pochen des Regens gegen die Fenster waren zu hören. Minutenlang kein anderes Geräusch, kaum eine Bewegung, und Louise spürte, wie sich ein eigenartiger Frieden über den Raum und die Leute darin legte, ein dunkler, erschöpfter Frieden wie nach einer langen, langen Zeit der Kriege und des Leids. Sie sah Eisenstein an und begriff, dass dieser Frieden von ihm ausging, diesem großgewachsenen, gekrümmten, vierundneunzigjährigen Mann, der wie Emma und Waldemar Kaufmann einen weiten Weg aus dem Osten in den Westen hinter sich haben musste, von Novisad 1910 über Schutzberg 1914 bis 1942 , die Orte, in die ihn die Umsiedlung 1942 geführt hatte, schließlich Lahr 2004 . Zwei Weltkriege dazwischen und wohl mehr Leid, als sie sich vorzustellen vermochte.
»Ob wir einen Kaffee kriegen?«, murmelte Bermann neben ihr, während sie noch immer darauf warteten, dass Andreas Eisenstein die Frau beruhigt hatte und die großen Tiere eine Entscheidung trafen, wie es weiterging. Wer bleiben, mit Eisenstein sprechen sollte.
Paulings Blick streifte Bermann, dann Louise. Sie mochten sich nicht, machten sich gegenseitig für Fehler und Tote verantwortlich, ohne je darüber gesprochen zu haben. Niksch, der junge Liebauer Polizist, der im Januar 2003 ums Leben gekommen war, war ihr Toter – Paulings Nichte Theres war mit Niksch verlobt gewesen. Peter Mladić, der Lahrer Beamte, der im Juli 2003 bei einem MEK -Einsatz ums Leben gekommen war, war Paulings Toter. Beide, Louise wie Pauling, hätten die Verantwortung übernehmen und gehen müssen und hatten es nicht getan.
Sie hob die Brauen, Pauling wandte sich ab, Bob wandte sich um, sagte: »Louise und Mats bleiben bei mir, die anderen fahren nach Freiburg zurück.«
»Antun Lončar«, sagte Andreas Eisenstein in reinstem Badisch. »Ich konnte mich nie an diesen Namen gewöhnen, obwohl ich selbst ihn ausgewählt hatte, 1946 , nachdem das Konzentrationslager in Walpach aufgelöst worden war und wir unter den Kommunisten neu anfangen mussten.« Er lächelte, ein trauriges, erschöpftes, besorgtes Lächeln. Die Stimme war die eines Fünfzigjährigen, das Gesicht das eines Greises, der ein Jahrhundert gesehen und dabei alle Kräfte aufgebraucht hatte – eingefallen, verrunzelt, durchzogen von feinen roten Äderchen, die Augen schwammen
in Wasser, die Lider zitterten. Louise fragte sich, was diesen Mann am Leben erhielt, irgendwo in ihm musste es noch Kraft geben, aus der sich auch die volle Stimme speiste. »Antun Lončar. Anton der Töpfer. In Schutzberg gab es niemanden mit dem Namen Töpfer, deshalb habe ich ihn ausgewählt. Es sollte nicht die kleinste Spur nach Schutzberg führen. Haben Sie je von Schutzberg gehört?«
»Ja«, sagte Louise.
»Von Walpach? Dem Konzentrationslager in
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