Im Auftrag der Väter
Bewohner den deutschen Namenszusatz »Schutzberg«, »Glogovac-Schutzberg« hieß es von da an, doch natürlich, sagte Eisenstein, verlor sich das »Glogovac« im Sprachgebrauch der Deutschen bald, und es blieb »Schutzberg«.
Er hielt inne, trank hastig wie ein Verdurstender von seinem Früchtetee, der längst kalt geworden sein musste, leerte anschließend ein Glas Wasser. Sein Atem ging schwer, er lächelte entschuldigend, bat mit einer Geste um einen Moment Geduld. Sein Blick glitt zu einem der verglasten Regale. »Ob Sie mir wohl ...?«
Louise stand auf. In einem der Regalfächer stapelten sich Medikamentenschachteln, daneben lag ein Plastikdöschen, darum bat Eisenstein. Flüchtig nahm sie Buchtitel in den Fächern darüber wahr, Literatur zu den Donauschwaben, ein mehrbändiges
Weißbuch der Deutschen aus Jugoslawien,
Bücher, in deren Titeln Begriffe wie »Völkermord«, »Genozid«, »Vertreibung« vorkamen, Heimatbücher, kroatische Titel, englische Titel. Sie brachte ihm das Döschen, setzte sich wieder, wartete, bis er eine Tablette genommen und mit Wasser hinuntergespült hatte.
»Der Psalm, nicht wahr?«, sagte sie dann. »Psalm 9 , Vers 10 .«
»Sie kennen unseren Psalm?«
»›Der Herr ist des Armen Schutz, ein Schutz in der Not.‹«
Eisenstein nickte, begann still zu weinen, sagte dann, lächelnd und weinend zugleich, am Anfang und am Ende Schutzbergs habe dieser Psalm gestanden, der dem Dorf den Namen gegeben und es letztlich überdauert habe, eingemeißelt in die Frontseite der Kirche. Dieser Vers habe ihn und andere während der Leidenswege nach 1942 begleitet,
bis sie in Josefsdorf eine neue Heimat gefunden hätten als deutsche Kroaten unter deutschen und »echten« Kroaten. Jahrelang hätten sie den Psalm dort nicht mehr gesprochen, nur noch gedacht, weil man sich besser nicht als Deutscher zu erkennen gegeben habe im neuen, kommunistischen Jugoslawien, gemeinsam gedacht, einander an den Händen haltend, er und Heinrich und dessen Onkel Christian, die Schutzberger in Josefsdorf, still gebetet, der Herr ist des Armen Schutz, ein Schutz in der Not.
Eisenstein hatte aufgehört zu weinen, erhob sich jetzt mühsam, entschuldigte sich und verließ das Zimmer. Die Haushälterin brachte neue Kekse, frischen Kaffee, frischen Tee, frisches Wasser. Louise bedankte sich, die Haushälterin, die um die sechzig sein mochte, lächelte verschreckt und sagte etwas in ihrer Sprache, ein Wort nur, es klang wie
»Molim«.
Da Andreas Eisenstein noch nicht zurück war, rief sie Alfons Hoffmann an, nichts Neues, die Kollegen im Wagen vor dem Haus der Niemanns, nichts Neues, zuletzt Mats Benedikt, der eben in Au eingetroffen war, nichts Neues auch von ihm. Die Fahndung läuft, Eisensteins Haus wird überwacht, Au ist eine Festung, Bob denkt, wir haben ihn heute oder morgen.
»Wir kennen ihn besser«, sagte Mats Benedikt.
»Ja«, sagte Louise.
»Vielleicht ist er gar nicht mehr hier. In Deutschland.«
Louise nickte. Kommt erst wieder, wenn Au keine Festung mehr ist, wenn wir ihn vergessen haben, weil wir nicht monatelang, jahrelang an einen alten Krieger mit einem schrecklichen Plan denken können.
Aber sie kannten ihn besser.
»Nein«, sagte sie.
»Nein«, bestätigte Mats Benedikt. Er lachte gekünstelt. »Ahnungen.«
Sie nickte erneut. Furchtbare Ahnungen.
Als Andreas Eisenstein wieder in seinem Sessel saß, fragte sie nach dem Wort, das die Haushälterin gesagt hatte.
Molim,
erwiderte er, kroatisch für »bitte«, und »danke« wäre
hvala.
Sie nickte, während sie die beiden Wörter still wiederholte,
molim, hvala,
vollkommen fremde Wörter, wie schon das Wort »Valpovo«, eine Sprache, in der sie sich völlig verirren würde, weil Französisch und Englisch nicht weiterhalfen. Keine Ableitungen möglich, keine Assoziationen. Sie fragte sich, wie es Heinrich Schwarzer alias Antun Lončar ergangen sein mochte, als er in den Neunzigerjahren nach Deutschland gekommen war, in jenes Land, dessen Sprache mit seiner frühen Kindheit und deren Traumata verbunden gewesen war. Ob er sich in der Sprache seiner Kindheit verirrt hatte.
Mit der ersten großen Tragödie der Donauschwaben setzte Andreas Eisenstein seinen Bericht fort, dem Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie 1918 und der Aufteilung Südosteuropas in Nationalstaaten. Ungarn, Rumänien, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen – später »Königreich Jugoslawien« – entstanden. Die Hauptsiedlungsgebiete der
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