Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
geschrieben hatte.
Er war selbst überrascht über seine Erfindung, die keine andere Deutung zuließ. Auch keinen Zusammenhang erforderte. Eine einfache Abfolge von Buchstaben, die jeder, der sie einmal gelernt hatte, lesen konnte.
Verdutzt starrte er auf den Ton. Bei Shubat, war so etwas möglich?
Er griff erneut nach seinem Stift, meinte, alles um ihn herum würde in Bewegung geraten, als er mit zitternder Hand vier Zeichen in den Ton ritzte, die eigentlich verschiedene Bedeutungen hatten, von denen er aber nur ihren jeweiligen Laut verwendete – und schrieb das Wort »Baum« nieder.
So einfach, jubelte er innerlich, und doch wirkungsvoll! Warum war noch niemand auf diese Idee gekommen?
Es waren die Götter, denen die Menschheit die Schrift zu verdanken hatte, und zu verändern, was von den Göttern stammte, war Frevel.
Im Alter von elf Jahren war David mit den Zeichen spielerisch umgegangen, hatte sie auf Ton zu Mustern angeordnet, als er unvermittelt auf seinem Arm einen stechenden Schmerz verspürte. Mit erhobener Rute stand sein Lehrer vor ihm. David kämpfte mit den Tränen. »Worte sind heilig!«, brüllte der Lehrer. »Mit ihnen zu
spielen
ist verwerflich!« David hatte nie wieder mit den Symbolen der Keilschrift experimentiert, sondern sich an die strengen Weisungen für Schriftgelehrte gehalten.
Aber die Götter haben uns doch Verstand gegeben, lehnte er sich jetzt auf, die Fähigkeit, nachzudenken und Probleme zu lösen. Sie haben uns mit Phantasie ausgestattet.
Er dachte an den moralischen Verfall der Bruderschaft, der eingesetzt hatte, weil die Schriftkundigen zu mächtig geworden waren. Weil sie ein Monopol auf Lesen und Schreiben besitzen, sagte er sich. Selbst Ärzte und Anwälte verlassen sich auf sie. Diese Macht hat sie korrumpiert. Das muss anders werden, beschloss er und reckte sein Gesicht dem Morgenwind entgegen.
Es war ihm zu Ohren gekommen, dass man in Ugarit davon sprach, Eisenerz schmelzen und daraus noch tödlichere Waffen herstellen zu können – nach einem von den Hattiern im Norden bislang geheimgehaltenen Verfahren, von dem man Kenntnis erlangt hatte. Wenn sich die Art und Weise, Kriege zu führen, ändert, überlegte David jetzt, kann sich dann nicht auch die Art und Weise des Nachrichtenaustauschs ändern? Die Ägypter haben eine effizientere Form des Schreibens erschaffen, die hieratische Schrift. Sind sie deshalb Eroberer und wir Kanaaniter nicht? Alles, was wir tun, ist archaisch und schwerfällig. Ugarit beharrt wie Lagasch auf Bräuchen und Traditionen, die nichts mehr mit der Realität zu tun haben. Eine eingängigere Schrift, eine, die weitaus mehr Menschen in die Lage versetzen würde, sie lesen und schreiben zu können, dürfte Regierung und Volk nur von Nutzen sein. Und Schriftgelehrte würden durch den Verlust ihres Monopols ihre Vormachtstellung verlieren, was letztlich ihrem korrupten Verhalten den Garaus machen würde.
Mit Blick auf den Himmel im Osten beschloss er zu beten. Ich werde dieses Problem Shubat zu Füßen legen und tun, was immer mir mein Gott befiehlt.
Er hielt sein Gesicht in den kühlen Wind, der vom Großen Meer wehte, roch die salzige Luft, die sich bei ihm stets mit Hoffnung und Neubeginn verband. Er schloss die Augen und öffnete Shubat sein Herz, spürte, wie sich unsichtbare Wesen und Geister um ihn herum scharten, so als stiegen die verblassenden Sterne am Himmel als Schutzengel, als Götterboten herab zur Erde. Bitte gebt mir Antwort, betete David. Offenbart mir eure kosmische Weisheit.
Und dann … etwas anderes, eine Höhere Gegenwart …
David erschauerte. Schweiß brach auf seiner Stirn aus. »Wer bist du?«, fragte er leise. Shubat war es jedenfalls nicht. Er spürte das Gewicht des Himmels auf ihm lasten, sein Körper kribbelte, als würden die verblassenden Sterne seine Haut kitzeln. Mit weiterhin geschlossenen Augen öffnete David sein Herz. »Sprich zu mir, Erhabener …«
Und plötzlich ahnte er, wer oder was es war.
Konnte das sein?
El galt als der älteste aller Götter – er war der Vater – und wurde von Kanaan bis Lagasch und selbst im fernen Babylon und in Ur verehrt. Es hieß sogar, El sei der namenlose Gott der umherziehenden Habiru, denn El war kein Name, sondern die semitische Bezeichnung für »Gott«. Und weil die Sprache, deren man sich in Lagasch bediente, der kanaanäischen ähnlich war, sprach David die alte Gottheit jetzt mit El Schaddai an, was Allerhöchster Gott hieß.
»Ich flehe dich an, der
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