Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
nicht.«
»Noch einmal.« Er deutete auf das M, ließ sie den Laut aussprechen, dann das I, dann das L, dann das C und das H.
»Mmmmm-i-lllll-cc-hh. Milch! David! Das Wort heißt Milch! Richtig?« Sie sah von der einen Tafel zur anderen und wieder zurück, und auf einmal sprang ihr das Wort mit den fünf Zeichen entgegen.
»Milch ist eine der Zutaten in diesem Heilmittel gegen Hautausschlag. Leah, das wird unser geheimer Code sein. Wenn du dir diese dreißig Zeichen und wie sie ausgesprochen werden einprägst, wirst du alles, was ich für dich niederschreibe, lesen können. Sämtliche medizinischen Rezepturen deiner Tante. Du brauchst keinen Schriftkundigen, der sie dir vorliest! Leah, wir können sofort damit anfangen. Sobald deine Tante wach und ansprechbar ist. Alles, worüber ihr beide euch unterhaltet, werde ich aufschreiben und anschließend in die neue Schrift übertragen.«
Leah sah auf ihre friedlich schlafende Tante. Die Morgenluft trug ihnen Jubelrufe aus der Stadt zu, verkündeten die Ernennung des Nachfolgers des alten Rabs. »Tante Rakel?«, sagte Leah und berührte die Schulter der Schlafenden.
Rakel rührte sich nicht, nur ihre Brust hob und senkte sich beim Atmen. »Tante Rakel?«, fragte Leah eindringlicher und rüttelte die Schulter der Tante.
»Tante Rakel?
Tante!
David, etwas stimmt nicht. Sie will einfach nicht aufwachen.«
10
»Großmutter, warum darf ich eigentlich nicht heiraten, wen ich will?«, fragte Leah. In ihren Armen schlief der kleine Baruch, inzwischen zwei Monate alt, seine winzigen Lider zuckten traumverloren. Leah sprach ein stummes Gebet für Tamar, mit dem sie die Götter anflehte, der Seele ihrer Schwester Frieden zu schenken.
»Als Mutter von Calebs Sohn«, gab Avigail mürrisch zurück, »darfst du nur einen Blutsverwandten heiraten.« Sie saß auf einem Hocker, hatte eine große Holzschüssel auf dem Schoß und mahlte Linsen zu Mehl. In der Küche arbeiteten nur noch wenige Sklavinnen, und keine von ihnen war für diese Arbeit kräftig genug.
»Aber
warum?«
Leah ließ nicht locker. »Steht das so im Gesetz? Ist diese Anordnung in den heiligen Büchern niedergeschrieben?«
»Weil es seit jeher so ist«, schnappte Avigail. »Musst du denn immer so verbohrt sein und für alles eine Begründung verlangen? Ein junges Mädchen hat das, was ältere Menschen sagen, nicht in Frage zu stellen. Ruf die Götter an, Kind, deine vorlauten Worte sind geradezu frevelhaft!«
Avigail versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm ihr derlei Gespräche waren, deuteten sie doch darauf hin, dass sich ein Wandel anbahnte. Am Vormittag hatte sie bereits erleben müssen, wie ein Mann und eine Frau über den Markt geschlendert waren, miteinander getuschelt, sich liebevoll an den Händen gehalten und sich Ehemann und Ehefrau genannt hatten. Normalerweise hätte das frisch verheiratete und sichtlich verliebte junge Paar ein Lächeln auf Avigails Lippen gezaubert, nur dass es sich bei dem Ehemann um einen Ägypter gehandelt hatte, während seine Ehefrau eine Kanaaniterin war! Avigail war nicht die Einzige gewesen, die entgeistert dieses gemischte Paar angestarrt hatte. Besaßen die beiden denn überhaupt keinen Anstand? War es das, worauf die Welt zusteuerte – mit Traditionen und fest verwurzelten Gepflogenheiten zu brechen?
Sie dachte an ihren Sohn. Elias hatte von der Bank im Haus des Goldes ein Darlehen eingeräumt bekommen, das er zusammen mit dem Geld anderer für den Bau einer Waffenschmiede zu verwenden gedachte. Waffen! Wo die Familie sowieso schon tief verschuldet war. Die Traubenlese fand erst in zwei Monaten statt, und die gefüllten Weinamphoren im Lager warteten noch immer auf Abnehmer. Wo sollte Elias dann den neuen Wein aus den Gärbottichen lagern? Er sprach von Gewinnen, die die Waffenschmiede abwerfen würde – dabei war noch kein einziger Stein für die Grundmauern gesetzt worden.
Avigails sorgenvolle Gedanken gingen zu Saloma, deren Niederkunft bevorstand. Neben Tamars kleinem Waisenkind würden sie sich also bald um ein weiteres Baby kümmern müssen. Und was war mit Esther? Die Vierzehnjährige griff zu den fadenscheinigsten Ausreden, um in die Stadt zu gehen, wo sie, den unteren Teil ihres Gesichts mit einem Schleier abgedeckt, durch die Straßen schlenderte und die Aufmerksamkeiten fremder Männer genoss. Die arme Tante Rakel hingegen hatte sieben Tage in einem »Dämmerschlaf« verbracht und zwischendurch gerade so viel Bewusstsein wiedererlangt, um
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