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Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)

Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)

Titel: Im Auge der Sonne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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umsonst unterlagen Schriftkundige einem strengen Moralkodex, der ihnen untersagte, Hilflose auszunützen.
    »Könntest du mich nicht im Lesen unterweisen?«, fragte Leah unvermittelt.
    Die Frage überraschte ihn. »Ich kann dir nicht in einem Tag das beibringen, wozu ich siebzehn Jahre benötigt habe. Schreiben ist sehr schwierig. Es gibt Hunderte von Zeichen, und jedes von ihnen hat viele verschiedene Bedeutungen.«
    Sie legte die Hand auf seinen Arm. »Geh zurück ins Haus des Goldes, David. Das Ritual mit dem Rab beginnt bald.«
    »Ich muss hier sein, wenn deine Tante aufwacht. Ich werde aufs Dach gehen und als Vorbereitung auf die Begegnung mit dem Rab unter den Sternen meditieren. Sag mir Bescheid, wenn Rakel wieder ansprechbar ist.«
    Er küsste sie – züchtig auf die Wange – und verließ die Kammer.
    Als er das Dach erreichte und, vom Licht des Mondes umgeben, den Duft der Sommerblumen einatmete, als er die Lichter der Stadt in der feuchtschwülen Nacht glitzern und funkeln sah, musste er wieder an das Problem mit den Tontafeln denken, die er für Leah beschriftet hatte – und mit denen sie überhaupt nichts anfangen konnte. Genauso wenig wie er ihre einfachen Fragen beantworten konnte. Er musste daran denken, wie er als Junge einen Lehrer gefragt hatte, weshalb ein Schriftzeichen so viele verschiedene Bedeutungen habe.
    »Wenn es nicht so wäre, würden wir statt Hunderten Tausende von Schriftzeichen benötigen, und derart viele kann sich kein Mensch merken.«
    Ein Gedanke flackerte in ihm auf. Hunderte statt Tausende. Könnte diese Menge nicht verkleinert werden? Vielleicht auf
weniger
als Hunderte?
    Ein verwirrendes Gedankenspiel hob an. Analytisches Denken, ein Problem logisch zu begründen, war für David etwas Ungewohntes. Ein Schriftgelehrter hatte zu lernen und dann das Gelernte anzuwenden. Etwas Neues zu erarbeiten war ihm fremd, trotzdem nahm er es jetzt in Angriff, schon weil ihn diese Herausforderung reizte und er das Gefühl hatte, nach einer langen Wanderung an eine unerforschte Grenze zu stoßen.
    Weniger Schriftzeichen …
    Was wäre, wenn ein Zeichen nur eine einzige Bedeutung hätte?, fragte er die Nacht. Wenn es nicht ein Laut
und
eine Silbe
und
ein Wort
und
ein Verb
und
ein Substantiv
und
ein Begriff wäre, sondern
nur eins
davon?
    Mit zittrigen Händen öffnete er die Schachtel mit seinen Schreibutensilien und entnahm ihr einen Klumpen feuchten Tons. Ohne genau zu wissen, was er tat, nur beflügelt von einem nie gekannten Impuls, drückte er den Ritzstift so in den Ton, dass er zwei parallele Keile bildete, die von einem dritten mit zwei Dreiecken an der rechten Ecke geteilt wurden. Er besah sich, was er gerade geschrieben hatte. Das Zeichen konnte für den O-Laut stehen, aber auch Ochse heißen, weil diese Keile einem alten Piktogramm entstammten, das wie ein Ochse ausgesehen hatte. Allerdings konnte es auch »Macht« und »Stärke« bedeuten sowie »ziehen« oder »tragen« und außerdem Teil eines Wortes sein, das die Silbe »Ochs« enthielt. David hatte vergessen, wie ungemein schwierig Schreiben war.
    Wenn er aber die Wahl hätte …
    Er sah nach Osten. Der Himmel wurde bleich. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der neue Tag anbrach. Bald musste er sich zum Haus des Goldes aufmachen.
    Er konzentrierte sich wieder auf das vielschichtige Problem, das es irgendwie zu lösen galt. Wenn er einem Zeichen nur einen einzigen Begriff zuordnen dürfte, welcher sollte es dann sein? Eigentlich war es doch sinnvoll, wenn ein Zeichen für einen Begriff stand. Das Zeichen für einen Ochsen sollte nur für einen Ochsen stehen. Das für einen Baum nur für einen Baum.
    Er runzelte die Stirn. Tausendmal Tausende Zeichen müsste man sich dann einprägen.
    Wenn er andererseits die Wahl hätte, lediglich …
    Wenn ein Zeichen für einen Laut steht und diese Laute zu einem Wort verbunden werden könnten, wie viele Zeichen wären dann nötig?
    Nur so viele, wie es Laute gibt.
    Mit erregt pochendem Herzen griff David nach seinem Stift und wählte ein Zeichen, das für Wasser, Regen, kalt, sauber oder einfach für »D« stand, und ritzte es in den Ton. Dann ließ er das Zeichen für »Ochse« folgen, verwendete es aber jetzt nur als »O«. Dann drei Keile und ein Dreieck, das Zeichen für »Reihe« oder »grasen« oder »Herde«, das er aber nur als ein »R« gebrauchte, und zu guter Letzt das Zeichen für »Fläche«, »Haus« und »Mauer«, nämlich das »F«, und sah, dass er das Wort »Dorf«

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