Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
ebenfalls Gedanken in meinem Kopf. Und ihnen zu antworten ist doch nicht verkehrt. Ich kenne viele, die Selbstgespräche führen, und halte das keineswegs für einen Fluch, sondern für einen Segen, Nobu. Viele sind nicht in der Lage, ihre eigenen Gedanken zu verstehen. Weil ihr Verstand verwirrt ist. Du aber scheinst mir einen sehr klaren Verstand zu besitzen.«
Er blinzelte sie mit seinen Schildkrötenaugen an. Was für eine ebenmäßige Stirn sie hatte! Welch exquisite Wangenknochen! Und die schwarzen Haarsträhnen, die unter ihrem orangefarbenen Schleier hervorspitzten, weckten in Nobu urplötzlich den Wunsch, sie zu berühren.
»Warum verzichtest du nicht mal ein paar Tage auf Wein und hörst auf deinen Verstand?«, sagte sie. »Wenn du meinst, du müsstest viel Wein trinken, kannst du das ja immer noch tun, aber wie kannst du feststellen, wie du dich fühlst, wenn du nicht probehalber mal darauf verzichtest?«
»Du meinst, ich soll den Stimmen
lauschen
anstatt versuchen, sie auszuschalten?«
Sie nickte. Als er das Lächeln in ihren Augen sah, wünschte er sich, sie würde ihren Schleier sinken lassen. Denn eigentlich, überlegte er, fiel der kleine Makel um ihren Mund herum kaum ins Gewicht.
»Bete für mich, liebes Mädchen, ich werde es versuchen.«
Sie erhob sich. »Das werde ich. Und jetzt der Grund, weshalb ich hergekommen bin. Dein Meister wird eine Weile hier aufgehalten werden. Er möchte, dass du zur Bruderschaft zurückgehst.«
Nobu, der aufmerksam zugehört hatte, ohne Esther aus den Augen zu lassen, musste sich eingestehen, dass es seinerzeit falsch gewesen war zu behaupten, er hielte es nicht einen Tag länger in diesem Hause aus. Jetzt wollte er unbedingt bleiben.
Den ganzen Nachmittag lang drängte Leah die Tante unendlich behutsam, von ihrem Leben in Jericho zu erzählen, nicht ohne sie immer wieder auf den Garten mit den Heilkräutern anzusprechen, sobald Rakel auf ein anderes Thema abschweifte. Während die alte Frau in Erinnerungen schwelgte, glitt Davids flinke Hand über seine feuchten Tonbrocken, hielt Rakels Wissen und Kenntnisse fest. Sie verriet zahlreiche Heilbehandlungen – von Kuren gegen Ohrenschmerzen bis hin zur Stabilisierung eines verstauchten Knöchels –, aber sie auf das Thema Fallsucht zurückzubringen erwies sich als Ding der Unmöglichkeit.
Bei Sonnenuntergang nickte sie ein. Leah entzündete die Lampen und Kerzen in der Kammer und meinte dann zu David: »Für dich wird es höchste Zeit, ins Haus des Goldes zurückzukehren.«
Er jedoch behielt Rakel im Auge, die im Laufe des Tages noch kleiner geworden zu sein schien. Ihr Gesicht war entspannt, ihre Haut völlig farblos geworden, und um ihre Augen zeichneten sich dunkle Ränder ab. Er wusste, was das bedeutete. Er war in Lagasch oft genug ans Bett von Sterbenden gerufen worden, um deren letzte Worte aufzuzeichnen, ihr Testament zu beurkunden und ein abschließendes Dokument aufzusetzen. Würde Rakel die Nacht überleben? »Noch nicht«, gab er zurück. »Ich muss erst bei Tagesanbruch zurück sein.«
»Dann hole ich uns ein wenig Wein und etwas für Tante Rakel.«
Sie wollte schon gehen, als ihr Blick auf die Tontafeln fiel, auf denen Rakels medizinische Rezepturen festgehalten waren. Ihre Stirn kräuselte sich. Was sollte sie nur mit all diesen unverständlichen Strichen und Punkten und Dreiecken anfangen? Wie sollte sie das alles, wenn es erst einmal getrocknet war, lesen? Wie wissen, welches das Elixier gegen Magengeschwüre war, welche Salbe bei Verbrennungen Linderung versprach?
»David«, sagte sie, »was fange ich mit diesen Tafeln an? Wie weiß ich, welche was beinhaltet?«
»Du musst sie dir von einem Schriftkundigen vorlesen lassen.« Aber noch während er das sagte, wurde ihm die Sinnlosigkeit seiner Worte bewusst. Da hatte er Rakels Kenntnisse auf Tontafeln festgehalten, aber nicht bedacht, dass sie ohne einen Schriftkundigen für Leah und ihre Familie zu nichts nütze waren. Wenn jemand im Hause krank wurde, waren sie auf die Gnade eines Mannes angewiesen, den sie womöglich auch noch bestechen mussten. Er stellte sich Yehuda vor, wie er seelenruhig darauf wartete, dass Gold in seine Handfläche wanderte.
Zum ersten Mal wurde er sich der Macht eines Schriftkundigen in vollem Umfang bewusst. Wenn er seinen Beruf bisher als
Dienstleistung
für andere erachtet hatte, verhielt es sich in Wahrheit doch so, dass Bürger auf Gedeih und Verderb auf ihn und seine Brüder angewiesen waren. Nicht
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