Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
könnt ihr gleich meinen Auftritt vor den Richtern miterleben.«
Sie schritt den Pfad entlang und klopfte an der Tür. Ein vor sich hin brummelnder Beamter führte sie in einen Raum, in dem hauptsächlich Männer dicht an dicht auf Bänken hockten oder nervös hin und her liefen. Alle wurden sie von Anwälten begleitet. Avigail blieb an der Seite stehen, verschlang die Hände und hoffte nur, dass sie auch alles richtig aufzählte, was dieser Spitzbube Faris ihr eingeschärft hatte. Nervös, wie sie war, durfte sie nicht vergessen, in welcher Reihenfolge sie ihre Argumente vorzutragen hatte.
Schließlich wurde sie in den großen Gerichtssaal gerufen, einen für Ugarit typischen geräumigen Saal mit hohen Decken und Säulen und spiegelblankem Marmorfußboden. Dort hieß man sie, vor ein Podium zu treten, auf dem drei Richter auf thronähnlichen Sitzen mit hohen Rückenlehnen und löwenköpfigen Armstützen saßen.
Sie trugen verschiedene Schichten mehrfarbiger Gewänder, mit Edelsteinen verzierte Sandalen, und ihre hohen, mit goldenen Fransen und silbernen Quasten besetzten Kopfbedeckungen nahmen sich fast so majestätisch aus wie Kronen. Die Wand hinter ihnen zeigte Reliefs von Ugarits vielen Göttern, umrahmt von Kolumnen in Keilschrift, die von der Entscheidungshoheit dieses Gerichts über alle zu verhandelnden Angelegenheiten kündeten und dass hier ohne Ansehen der Person der Gerechtigkeit Genüge getan werde.
Ein Mann in einer langen blauen Robe und mit einem Ebenholzstab in der Hand nahm neben dem Podium Aufstellung und rief mit lauter Stimme: »Merkt auf, Bürger von Ugarit, und gedenkt der Götter von Ugarit! Die Segnungen Dagons und Baals und Asherahs sei mit diesen Männern der Gerechtigkeit. Ruft die Götter an und seid demütig!« Er wandte sich an Ziras Anwalt: »Du kannst jetzt dieses Gericht anrufen.«
»Die Segen der Götter, meine Herren«, begann Ziras Anwalt mit fester Stimme. Er hatte zwei weitere Anwälte mitgebracht, die ebenso elegant gekleidet waren wie er und ungemein wichtig wirkten. »Bitte nehmt die tief empfundenen Entschuldigungen meiner geschätzten Mandantin Zira Em Yehuda an. Es war nicht ihre Absicht, eure kostbare Zeit zu vergeuden, aber dass wir euch heute belästigen müssen, ist nicht ihr anzulasten.«
Uriah, der Oberste Richter, bedachte Zira mit einem Lächeln. »Es ist immer ein Vergnügen und ein Privileg, unsere Freundin wiederzusehen, Zira Em Yehuda«, sagte er. »Wie geht es deinem Sohn? Wir hatten seit längerer Zeit keine Gelegenheit, mit ihm das Brot zu brechen. Die Umstände ließen es nicht zu.«
Zira verbeugte sich. »Rab Yehuda ist wohlauf, Ehrwürdiger. Danke der Nachfrage.«
Da das Hohe Gericht öffentlich tagte, erwarteten die vielen Zuschauer, die sich eingefunden hatten, etwas Unterhaltsames geboten zu bekommen. Einige kicherten, als sie sahen, dass die Frau, die es mit Jothams berüchtigter Schwester aufnehmen wollte, barfüßig war. Weitaus mehr waren bestürzt, dass sie gegen Zira, die von drei mit Ringen behängten Anwälten in schmucken Roben eingerahmt wurde, allein auf weiter Flur stand. Wobei ihre Bestürzung weniger Avigail als vielmehr der Tatsache galt, dass durch den eklatanten Vorteil, den Zira hatte, die Auseinandersetzung nicht nur langweilig werden würde, sondern sich Wetten auf das Ergebnis erübrigten.
Auch Avigails Angehörigen, die unter Nobus umsichtigem Schutz hinten im Saal das Geschehen verfolgten, schwante für das Urteil nichts Gutes.
Richter Uriah wandte sich Avigail zu, so bedächtig, als wiege sein Kopfputz schwerer als alle Gesetze und Verurteilungen in Ugarit zusammengenommen. »Und wer bist du?«
»Die Segnungen Baals, meine Herren. Ich bin die Mutter von Elias dem Winzer, dessen Haus an der südlichen Hauptstraße der Stadt liegt.«
Uriah warf ihr einen finsteren Blick zu. »Wo ist dein Anwalt?«
»Ich kann mir keinen leisten, Herr.«
»Wo ist dann dein männlicher Verwandter, um für dich zu sprechen?«
»Ich spreche für mich selbst, Herr.«
Die drei Richter sahen einander an. »Das verstößt gegen die Regeln. Es muss doch einen entfernten Verwandten geben oder einen gut beleumdeten Nachbarn. Vor diesem Tribunal sprechen für gewöhnlich Männer.«
»Ich habe keinen männlichen Beschützer, keinen Mann, der mich vertreten könnte, meine Herren«, sagte Avigail und hoffte, ihre Stimme verriete nichts von ihrer Unsicherheit. »Ich stehe allein hier. Das ist zwar ungewöhnlich, aber meines Wissens gestattet,
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