Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
gestikulierten oder saßen einfach nur mit überkreuzten Beinen da und hielten Ton und Griffel, Papyrus und Feder bereit.
»Halla
«, entfuhr es Rakel leise. »Die Götter mögen uns beschützen. Wo sind wir hier eigentlich?«
»An einem Ort, an dem wir finden werden, was wir suchen, Tante Rakel.« Es klang ein wenig verunsichert.
Wie sollte man in diesem Durcheinander einen Arzt entdecken?
»Dort drüben, Herrin«, sagte einer der Sklaven, ein älterer Mann, der auch als Leibwächter fungierte, drohten doch in einer Hafenstadt, in der zwei Frauen allein unterwegs waren, immer Gefahren. Leah folgte dem hinweisenden Finger und sah im Schatten einer Loggia eine Reihe Männer auf Schemeln sitzen. Jeder von ihnen beschäftigte sich mit einem Patienten, horchte an der Brust, schaute prüfend in einen Mund, legte Wickel an, extrahierte einen Zahn. Einer kniete über einem auf dem Rücken liegenden Kind, ein anderer zog ein Tuch auseinander und betrachtete den Inhalt. Leah sah, wie winzige Gefäße und Beutel aus Holzschachteln gegen Ringe aus Kupfer und Gold ausgehändigt wurden. Sie bemerkte, wie Wartende husteten, niesten, hinkten, wimmerten, sich den Arm hielten, sich Wollbüschel an die Nase drückten. Wie sie sich in Geduld übten, bis sie an der Reihe waren, um bei den Männern auf den Schemeln vorstellig zu werden.
Den Ärzten.
Für Leah stellte sich die Frage, welcher von ihnen der Richtige war, um mit ihm über Rakel zu sprechen. Schier ohrenbetäubender Lärm herrschte auf dem Hof – nicht nur von den Kranken, sondern auch von gegenüber, wo sich Anwälte Beschwerden anhörten und Ratschläge erteilten und wo mit erhobener Stimme den dort sitzenden Schreibern Briefe diktiert wurden, Verträge, Empfangsbestätigungen. Konnte in diesem chaotisch anmutenden Gedränge überhaupt professionelle Arbeit geleistet werden?
Leah fasste sich ein Herz und führte Rakel näher an die Ärzte heran. Schon war der Geruch
von Krankheit und Siechtum wahrzunehmen. Als sie hin und her überlegte, welchem der Ärzte sie sich anvertrauen sollte – der, der da eben einen Zahn extrahierte, war vielleicht nur ein Dentist und auf anderen Gebieten nicht versiert, ebenso wie der daneben, der einen gebrochenen Knochen schiente, vermutlich nichts von Geisteskrankheiten verstand –, trat ein hochgewachsener Mann in langen weißen Gewändern zu ihr. Über seiner Schulter hing ein Kasten. Mit schwerem Akzent sagte er auf Kanaanäisch:
»Shalaam,
gute Frau. Kann ich dir irgendwie behilflich sein?«
Bei seinem Anblick wäre Leah um ein Haar zurückgewichen. Der Fremde hob sich schon dadurch von den anderen ab, dass er eine lange schwarze Perücke trug und im Gegensatz zu kanaanäischen Männern um die Augen herum geschminkt war. Außerdem war er glatt rasiert, wohingegen die Kanaaniter stolz ihre Bärte zur Schau trugen. Dieser Mann hier war ein Ägypter, und auch wenn sich Leah bewusst war, dass ihre impulsive Reaktion dem Einfluss ihrer Großmutter zuzuschreiben war, ging sie innerlich auf Abstand. Er war nicht der Arzt, der in der Nacht, da das Baby gestorben war, zu Hause vorgesprochen hatte. Ägyptische Ärzte hielten es in Ugarit nicht lange aus; zu tief saß der Hass, den die Kanaaniter ihnen gegenüber hegten. Da auch auf diesen hier kein Patient wartete – die Kranken und Verletzten standen lieber Schlange vor einheimischen Ärzten, als sich einem ägyptischen anzuvertrauen –, war abzusehen, dass er Ugarit bald verlassen würde.
Noch ehe sie sich abwenden konnte, ergriff Tante Rachel das Wort. »Du scheinst mir ein netter junger Mann zu sein«, sagte sie und lächelte ihn an. »Meine Mutter hat mir aufgetragen, Mohnsaft zu besorgen, aber ich kann nirgends einen Stand entdecken, wo ich welchen kaufen kann.«
Er schürzte die Lippen und blickte Rakel unter grün geschminkten Augenlidern an. »Deine
Mutter
?«, fragte er angesichts ihres schlohweißen Haares, ihrer verrunzelten Züge und ihres gekrümmten Rückens nach.
»Meine Tante«, mischte sich Leah ein, »hat Gedächtnislücken. Ansonsten ist sie recht gesund.«
Er erwiderte Rakels Lächeln, und Leah merkte, wie sich die Schultern der Tante, um die sie den Arm gelegt hatte, entspannten. »Wofür benötigst du denn diesen Mohnsaft, gute Frau?«, fragte er.
»Für eine Salbe, die die Augen vor Trockenheit und blendender Sonne schützt. Um sie herzustellen, muss man zu gleichen Teilen Blätter und Blüten von Akazien zerstampfen, Mohnsaft darunter rühren und nach dem
Weitere Kostenlose Bücher