Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
fransenbesetzten Kleidung und dem Goldschmuck im Haar nach zu schließen, schienen sie nicht von hier zu sein. Vor allem der Jüngere, dessen Aufzug derart auffällig war, dass Leah sich fragte, ob sie sich nicht in der Adresse geirrt hätten.
»Du da, Mädchen!«, rief der Ältere. »Richte deinem Herrn aus, dass man David von Lagasch nicht warten lässt!«
Leah tauschte einen Blick mit dem Jüngeren, dessen Tunika so drapiert war, dass sie eine Schulter und einen Arm unbedeckt ließ. Ausländer, eindeutig! Gleich darauf wurde sie sich bewusst, wie unmöglich sie selbst aussah. Mit einem gemurmelten »Ich werde Bescheid sagen« hastete sie davon, bekam aber noch mit, wie der Ältere gut vernehmlich sagte: »Dieser Elias kann nicht besonders kultiviert sein, wenn er seine Sklavinnen in einem derartigen Aufzug rumlaufen lässt.«
David, dessen Blick dem Mädchen folgte, fand, dass ihre Kleidung für eine Sklavin eigentlich zu erlesen war und ihr Haar zwar verstrubbelt, aber glänzend und gepflegt. Und dass ihre Augen während des kurzen Blickkontakts einen wachen Verstand und vielleicht auch einen Anflug von Trotz verraten hatten.
Jetzt betrat tatsächlich ein würdevoller Herr das Atrium. »
Shalaam«,
sagte er, »ich bin Elias. Willkommen in meinem Haus, mögen die Götter mit uns sein. Du bist der neue Schreiber? Es gibt viel zu tun. Kannst du mir sagen, was das hier ist?« Damit drückte er David eine Tontafel in die Hand.
Obwohl er sich über das Fehlen jeglicher Förmlichkeit wunderte und auch darüber, dass man ihnen nach einer derart langen Reise keine Erfrischung anbot, bewahrte David Haltung und studierte das handtellergroße Tontäfelchen, das mit Keilschrift in kanaanäischer Sprache abgefasst war. »Ja, das kann ich lesen. Aber dürfte ich vorher Shemuel kennenlernen, damit er mich in meine Aufgaben einweist?«
»Shemuel ist nicht mehr hier. Er hat sich auf die Insel Zypern zurückgezogen.«
David starrte verblüfft seinen neuen Dienstherrn an. Shemuel nicht mehr hier? Wie sollte er dann in sein Aufgabengebiet eingewiesen werden? Höchst sonderbar. Für gewöhnlich wurde ein Lehrling, wenn er seine erste Stelle antrat, für eine Weile von einem altgedienten Schriftkundigen eingearbeitet.
Er schaute Nobu an, erntete einen skeptischen Blick.
»Nun? Was steht da?«, fragte Elias. Kenntnisse im Lesen waren bei ihm nicht sonderlich ausgebildet, aber immerhin konnte er die kleine Tafel als Wechsel, versehen mit Jothams Siegel, ausmachen. Was sollte das? Wo er Jotham doch kein Geld schuldete?
»Das ist ein Wechsel, Herr«, sagte David. »Für den Kauf von Amphoren.«
»Aber ich habe von Jotham keine Amphoren gekauft.«
David war sich sicher, richtig gelesen zu haben. »Diese Quittung weist die Waren als Amphoren mit Sockel aus und dass die dir gelieferte Anzahl fünfhundertfünfzig Stück beträgt.«
»Unsinn! Seit Jahren beziehe ich meine Amphoren für den Export von Thalos dem Minoer. Er liefert sie mir aus seinem Betrieb an, und nach der Weinlese bezahle ich ihn. So haben wir es immer gehalten. Warum auf einmal Jotham damit ankommt –« Elias brach ab. »Sagtest du fünfhundertfünfzig Amphoren
mit Sockel
?«
»So steht es hier.«
»Genau die Anzahl, die ich bei Thalos bestellt habe! Und alle mit Sockel! Bei Dagon, was geht da vor?« Er nahm die Tafel wieder an sich. »Ich muss den Mann sofort aufsuchen. Du begleitest mich.«
Der Betrieb von Thalos dem Minoer, südlich von Ugarit gelegen, umfasste Werkstätten, Brennöfen, Lagerschuppen, Ausstellungsräume sowie die Unterkünfte für die vielen Arbeiter, die tagsüber mit Ton und Töpferscheiben hantierten. Als Thalos seinen alten Freund Elias inmitten der im Freien arbeitenden, vom Geruch von Keramikstaub und heißen Feuern eingehüllten Töpfer aus einer Sänfte steigen sah, hob er die Säume seiner langen blauen Gewänder und eilte ihm entgegen.
»
Shalaam,
mein Freund und Bruder!« Die knubbeligen Hände ineinander verschlungen, vollführte er eine tiefe Verbeugung. Wie alle Minoer trug Thalos sein Haar zu einem langen Pferdeschwanz am Hinterkopf zusammengefasst. »Ich darf doch annehmen, dass es dir und deiner Familie gutgeht und ihr es euch wohlsein lasst.«
Elias stand der Sinn nicht nach Höflichkeiten. »Ich erhielt heute diese Mitteilung«, sagte
er schroff und wies die Tontafel vor. »Sie besagt, dass ich Jotham den Gegenwert für die Amphoren schulde, die ich von
dir
gekauft habe.«
Thalos rang die Hände, Schweiß lief ihm
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