Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
Auftragen das Auge mit Mull abdecken. Wenn die Mischung zu dick gerät, kann man sie mit ein paar Tropfen Akaziensaft verdünnen.«
»In der Tat.« Der Ägypter war sichtlich beeindruckt. »Das ist genau das richtige Rezept. Viele meiner Landsleute leiden an Augenkrankheiten.«
Rakel kicherte wie ein junges Mädchen. »Du erinnerst mich an meinen Onkel, einen Gerber in Jericho. Er ist so groß wie du und sieht genauso gut aus.«
Leah konnte es nicht fassen. Ihre hochbetagte Tante schäkerte mit dem Ägypter!
Prompt vertiefte sich dessen Lächeln, dann wandte er sich an Leah. »Ich kenne das. Bei älteren Menschen kann es aus nicht bekannten Ursachen zu einer Rückentwicklung des Gedächtnisses kommen. Man nimmt an, dass sich die Seele, wenn sie sich bereitmacht, zu den Göttern zu gehen, der Fürsorge wie den leiblichen Beeinträchtigungen und damit diesem Leben entzieht. Wie bei deiner Tante werden mit dieser Absage an das, was man im Laufe der Jahre an Erfahrungen gesammelt hat, längst vergessene Erinnerungen wach. Es ist, als begebe man sich auf eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit. Schon bald dürfte sich deine Tante wieder wie ein kleines Mädchen vorkommen, und alles, was sie äußert, wird sich auf weit zurückliegende Jahre beziehen. Dieser Prozess ist weder schmerzhaft noch betrüblich, er kann sogar durchaus erfreulich sein. Aber eine Heilung ist ausgeschlossen. Deine Tante wird sich so lange zurückversetzen, bis ihr keine weiteren Jahre bleiben, die sie erneut durchleben kann.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen brach er ab, aber Leah konnte sich denken, was unausgesprochen blieb: Dass Rakel dann sterben würde.
Sie bedankte sich bei ihm und führte die alte Tante zurück auf den Weg, auf dem weitaus weniger Gedränge herrschte. Hätte sie dem Arzt etwas bezahlen sollen?, fiel ihr verspätet ein. »Was ist mit der Minze und dem Mohnsaft?«, quengelte Rakel.
Leah gab keine Antwort. Statt ein Heilmittel ausfindig zu machen, hatte der Besuch im Haus des Goldes ihre Besorgnis um die Tante nur noch gesteigert. Tagtäglich war Nachricht aus Sidon und damit Antwort auf die Anfrage nach einem Ehemann zu erwarten, und obwohl die Familie hoffte, dass der neue Schwiegersohn bei Elias einziehen würde, stand ihm das Recht zu, sich anderswo niederzulassen – und wenn dies der Fall war, musste Leah ihm folgen, und die verehrte Tante würde hinübergleiten in ein geistiges Gefängnis, aus dem es wohl keine Rückkehr gab.
Ich muss ihr helfen.
Sie musste sich etwas einfallen lassen, was die Tante geistig anregte und möglicherweise den Verfall aufhielt.
Sie hakte Rakel unter, drückte ihren Arm und sagte fröhlich: »Das werden wir alles selbst anbauen! Wir können anpflanzen, was immer wir wollen, liebste Tante. Wie wäre es auch mit Sellerie für deinen Morgentrunk? Den müssten wir dann nicht mehr bei ägyptischen Händlern besorgen.«
Und wenn ich denn das Haus meines Vaters verlassen muss, wird Tante Rakel wenigstens in ihrem eigenen Kräutergarten gut aufgehoben sein.
»Warum braucht er so lange?«, murrte Nobu ungeduldig. »Wie lange sollen wir noch hier rumstehen?«
David und Nobu hatten die palastartige Villa am Fuße der Berge, die Ugarit mit seinem Hafen umstanden, erreicht und sich bei den bewaffneten Wachposten am Tor gemeldet. Jenseits der hohen Mauern, die das Haupthaus umgaben, befanden sich Außengebäude, Gärten und Tiergehege. Soweit das Auge reichte, zogen sich über die Hänge üppige Weingärten mit schweren Trauben; zwischen den einzelnen Reihen waren Sklaven damit beschäftigt, Rebstöcke zu beschneiden, Unkraut zu jäten, Vögel von den empfindlichen Beeren fernzuhalten.
Einer der Wächter benachrichtigte den Verwalter, und als der nach einer Weile erschien, bat David ihn, zu Shemuel dem Schreiber vorgelassen zu werden. Sie wurden in die Empfangshalle gebracht.
Als sie Schritte hörten, meinten die beiden Besucher, gleich würde ein würdiger älterer Herr auftauchen. Umso erstaunter waren sie, als eine junge Frau an ihnen vorbeihuschte. Ihre bis zum Gürtel gerafften Röcke gaben den Blick auf nackte Beine und Füße preis, ihr Gesicht war schmutzverschmiert, das unverschleierte Haar fiel ihr über die Schultern. Was sie in den Armen hielt, schien ein mit Kieselsteinen gefüllter Korb zu sein. David und Nobu starrten verblüfft.
Leah, die in Eile war und deshalb die Abkürzung durchs Haus genommen hatte, blieb jäh stehen und starrte ihrerseits die Fremden an. Der
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