Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
entdeckt hatte, war grüner worden, wies mehr Buschwerk und großblättrige Pflanzen auf. Immer wieder hatte Leah von ihren Pflichten im Haushalt etwas Zeit abgezweigt, um Samen und Ableger in dem vernachlässigten Stück Acker einzugraben und zu bewässern. Aber noch immer erhob sich in der Mitte die alte Maulbeerfeige, ein knorriger toter Baum, der weder Laub noch Früchte trug. »Nicht mehr zu retten«, hatte der Oberste Gärtner ihres Vaters gemeint. »Bleibt nur noch, ihn zu fällen und den Stumpf rauszuziehen.«
Friedlich war es hier, weit weg vom Getriebe im Hause, wo Sklaven ständig hin und her liefen, Elias wichtige Besucher empfing, Großmutter sich sorgenvoll mit ihrem Sohn besprach. Hier, innerhalb dieser alten Mauern, auf dieser Bank unter dem alten Baum, konnte Leah ungestört ihren Gedanken nachhängen.
Sollte sie der Großmutter gehorchen oder nicht? Das Heilmittel für die Fallsucht würde die Familie retten. Um aber besagtes Heilmittel herzustellen, müsste sie der Großmutter gegenüber ungehorsam sein und damit auch das Versprechen brechen, das sie Asherah gegeben hatte!
»Große Göttin Asherah, du Allmächtige«, flüsterte sie und hielt sich ehrfurchtsvoll die Hände vor die Augen. »Bitte sage mir, was ich tun soll. Meine Familie befindet sich in einer schwierigen Lage. Meine Schwester Tamar ist meinetwegen verbittert und voller Zorn. Sie spricht nicht mehr von Baruch, dem jungen Mann, den sie liebt. Dass er nach Ebla geschickt wurde, um dort zu heiraten, lastet sie jedoch mir an. Vater läuft Gefahr, meinetwegen seine Weinberge und seinen guten Ruf zu verlieren. Und Großmutters Freundinnen ziehen sich wegen Zira zurück – meinetwegen! Weil ich an allem schuld bin, sollte es mir also zustehen, alles wieder in Ordnung zu bringen. Wenn ich mich weiterhin um Tante Rakels Heilmittel gegen Fallsucht bemühe, können wir mit Zira und ihrem Bruder Frieden schließen. Das heißt aber, dass ich mich meiner Großmutter widersetzen muss. Dabei war es doch meine Widerspenstigkeit, die all diese Probleme ausgelöst hat! Gesegnete Mutter Aller, was soll ich tun? Welchen Weg soll ich einschlagen? Bitte, Asherah, gib mir ein Zeichen.«
Die Hände noch immer vor ihrem Gesicht, lauschte sie. Sie hörte Spatzen in nahe gelegenen Bäumen, die Stimmen von Sklaven in den Tiergehegen, das Rumpeln der Räder eines Karrens auf seinem Weg zum Weinberg. Aber kein Raunen, keine Botschaft von Asherah.
Leah ließ die Hände sinken und suchte den Garten nach einem Zeichen ab: die Sommerblumen, um die herum Bienen summten, die Maulbeerbüsche, die sie gepflanzt hatte, die aber noch keine Früchte trugen, Setzlinge und verheißungsvolle junge Triebe, das Kleebeet, das David aufgefallen war, als er zufällig diesen Garten entdeckt hatte.
David …
Halla!
Ihre Gedanken schweiften ab! Wie konnte Asherah ihr Gebet ernst nehmen, wenn sich der junge Mann, in den sie sich verliebt hatte, urplötzlich in den Vordergrund schob. Sie sollte nicht an ihn denken.
Aber vergiss nicht, widersprach ihr Gewissen, dass es David war, der den Vorschlag gemacht hat, Jothams Zorn mit Hilfe von Zira zu besänftigen!
»Gesegnete Asherah«, murmelte Leah, die noch vor einem Jahr nur an Mutterschaft gedacht hatte und daran, eine gute Ehefrau zu werden. Allein auf sich gestellt, schwierige Überlegungen anzustellen und Entscheidungen zu treffen, war für sie ungewohnt. Verantwortung und welche Konsequenzen sich daraus ergeben konnten, waren Männersache, nicht die eines jungen Mädchens, dessen größtes Problem sein sollte, welchen Schleier sie zu welchem Kleid trug!
Sie ließ die Schultern hängen. Kein Zeichen von Asherah. Leah war bei der Lösung ihres Problems nicht einen Schritt weitergekommen …
Sie stutzte, als sie etwas sah, was sie bislang nicht bemerkt hatte. Aus dem trockenen Erdreich um den bröckelnden Stamm des toten Maulbeerfeigenbaums spitzte etwas Grünes heraus.
Leah blinzelte, beugte sich von der Bank aus vor, glaubte ihren Augen nicht zu trauen.
In dem vertrockneten Erdreich, an einer Stelle, an der Leah nichts gesät oder gepflanzt hatte, kämpfte sich ein grüner Schössling himmelwärts. Jedes seiner Blätter besaß an der einen Seite drei Zacken, an der anderen vier, wie für die Blätter der Maulbeerfeige typisch. Dieses Pflänzchen musste eine »Tochter« des toten Baums sein. Hatte der Same die langen Jahre verschlafen und darauf gewartet, mit Wasser geweckt zu werden? Denn wie Leah jetzt einfiel, hatte
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