Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
sie auf dem Weg zu ihren anderen Pflanzen Wasser verschüttet und somit diesen vernachlässigten Boden befeuchtet.
Angesichts der Wunder der Natur musste sie lächeln. Wie hatte sie sich abgemüht, diesen vergessenen Garten wiederzubeleben! Dabei ging das Leben auch ohne ihr Zutun weiter! Ab sofort würde sie den kleinen Keimling hegen und pflegen, ihn bewässern, Unkraut und Insekten von ihm fernhalten, um eines Tages die ersten süßen Feigen von seinen Ästen pflücken zu können. Der alte tote Baum würde in seiner »Tochter« weiterleben.
Als sie dann sah, wie dicht der zarte grüne Spross am Mutterbaum stand, geschützt vor zu viel Sonne, Wind und Regen, aber doch genau das richtige Maß an Sonnenlicht und Wasser, um sich zu entwickeln, wusste sie, dass dies ein Zeichen von Asherah war.
Die Göttin gibt mir zu verstehen, dass es sich so, wie der alte Baum durch den Spross weiterbesteht, auch mit den Menschen verhält. Die ältere Generation gibt ihr Wissen an die jüngere weiter. War das nicht das, was Großmutter immer wieder sagte? »Wir flohen aus Jericho mit nichts als den Kleidern, die wir am Leibe trugen. Aber in unserem Herzen und in unserem Gedächtnis bewahrten wir die Erinnerungen und das Wissen, das Generationen vor uns an uns weitergegeben haben.«
Ja, dachte sie zunehmend erregt. Die Göttin möchte, dass Rakel ihre Erinnerungen und ihr Wissen an mich weitergibt. Ich werde dabei so vorgehen, dass Großmutter nicht böse ist. Ich werde andere Wege zum Gedächtnis meiner Tante finden. Aber zuerst werde ich mit Tante Rakel auf den Markt gehen und Samen für Molochs Traum besorgen, ihn hier aussähen und sich entwickeln lassen. Zur Erntezeit dann werde ich Tante Rakel bitten, mir zu zeigen, wie man die Medizin herstellt, die Fallsucht heilt.
Ein Geschenk für Zira. Das Glück unserer Familie wird wieder gewährleistet sein. Und dann können David und ich …
»Leah!« Esther kam angerannt, ihr entstelltes Gesicht strahlte vor Begeisterung. »Komm schnell! Gepriesen seien die Götter! Der Vetter aus Damaska ist eingetroffen! Dein Ehemann, Leah!«
David hatte nicht damit gerechnet, dass er sich in Ugarit verlieben würde, dennoch war genau das eingetroffen, unumgänglich wie der blaue Sommerhimmel. Er hatte nach Leahs Besuch auf dem Dach nicht geschlafen, war dort oben unter den Sternen geblieben, hatte über die Geheimnisse einer Welt nachgedacht, in der ein Mann sein Ziel im Auge hatte, wusste, was ihm wichtig war, und sich selbst so gut kannte, dass er sich vor Überraschungen gefeit wähnte. Und im nächsten Augenblick wurde alles über den Haufen geworfen.
Als er über die nach Süden führende Straße ins Haus von Elias zurückkehrte, beschleunigten sich seine Schritte, weil er Leah dort wusste. Allein der Gedanke an sie erfüllte ihn mit süßer Erregung. Freudig sah er dem Abendessen entgegen, wenn Elias und seine Großmutter, gelegentlich auch seine Ehefrau Hannah, einander berichteten, was sie untertags an Neuigkeiten aufgeschnappt hatten, wenn sie eine neue Strategie entwarfen, um Jothams rachsüchtigem Vorgehen einen Riegel vorzuschieben, oder auch nur darüber sprachen, dass der lange Sommer ohne den üblichen Nebel vom Meer her für einen umso süßeren Wein sorgen würde. Und während es so weiterging, Nobu in der Ecke auf seinem Schemel hockte, beherzt dem Wein zusprach und seinen Götterstimmen murmelnd antwortete, Esther und Tamar sich über ein Mädchen vom Nachbargut ausließen, das kurz vor der Hochzeit mit einem auswärtigen Vetter stand – wenn sich also die Familie dem üblichen Geplauder bei Tisch hingab, sahen sich David und Leah über den Tisch hinweg an.
In der Bruderschaft gab es keine Vorschrift, die einem Schriftgelehrten die Ehe untersagte. Sogar dem Rab wurde eine Ehefrau zugestanden, manchmal sogar dringend anempfohlen, weil man der Ansicht war, eine Ehefrau unterstreiche die Honorigkeit des Mannes. David hatte noch nie einen Gedanken an Heirat verschwendet; er war mit seinem Studium viel zu beschäftigt gewesen. Jetzt aber, da er an nichts anderes als an die entzückende Leah denken konnte, fand er die Überlegung, Ehemann zu werden, durchaus reizvoll.
Es würde allerdings schwer werden. Als mittelloser Schriftgelehrter ohne Empfehlungsschreiben könnte er sie jetzt nicht bitten, seine Frau zu werden, sondern erst, wenn er ein Mitglied der Bruderschaft war und als solches hohes Ansehen genoss. Er hatte den Vormittag über versucht, jemanden in der Stadt
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