Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
im Geiste vorzustellen löste süßes Erbeben in ihrem Körper aus. Sie liebte nicht nur den Mann, allein schon der Gedanke an ihn war überwältigend. Sein kraftvoller Körper, als er seine Zh’kwan-eth-Übungen absolviert hatte! Wenn sie allein war, flüsterte sie seinen Namen, genoss das Gefühl, das sich dabei in ihrem Mund einstellte, seinen Klang in ihren Ohren. »Mein David«, pflegte sie zu flüstern, und dann verzogen sich ihre Mundwinkel erst zu einem Lächeln, ehe sie leise auflachte, weil es so wunderschön war und so erregend, verliebt zu sein.
»Leah, woran merkt man, dass man verliebt ist?«, hatte Esther sie unlängst gefragt. »Wirklich, wirklich verliebt? Woher weiß man, dass der Mann derjenige welcher ist, dass es nie einen anderen geben wird, ganz gleich, was geschieht oder wie lange man lebt? Woran merkt man das, Leah?«
Damals hatte Leah noch keine Antwort darauf gehabt. Aber seit gestern Abend auf dem Dach war alles anders – David hatte gesagt, er wünschte, er hätte das Liebesgedicht für sie geschrieben! Heute würde sie der kleinen Schwester sagen: »Du weißt, dass du wirklich verliebt bist, wenn du einen Mann anschaust und dir plötzlich bewusst wird, wie wenig Zeit uns auf Erden bleibt. Denn von jetzt an möchtest du ewig leben.« Die arme Esther, die wirklich eine Schönheit war – solange ein Schleier ihren Mund bedeckte. Auf den Straßen und Märkten und in den Tempeln sahen junge Männer sich durchaus interessiert nach ihr um. Sollte sie aber ihren Schleier lüften müssen, wären sie entsetzt, angewidert, bestenfalls voller Mitleid. »Ich möchte mich verlieben, Leah. Ich möchte erleben, wie das ist«, hatte Esther gesagt, und jetzt, da Leah wusste, wie es war, wirklich verliebt zu sein, die Erregung spürte, die damit einherging, all ihre Gedanken auf ihren Geliebten ausgerichtet waren und sie dem Augenblick entgegenfieberte, da sie ihn erblickte, da sich womöglich Gelegenheit bot, ihn zu berühren oder mit ihm einen Kuss zu tauschen – diese Freude wünschte sie auch Esther. Aber welcher Mann würde sich schon in sie verlieben?
»In Jericho waren wir glücklich. Bis die Ägypter kamen und uns aus unseren Häusern vertrieben«, sagte Rakel und hielt sich den Stoff dicht vor die Augen, um die Stiche zu überprüfen. Obwohl sich Angora schön weich anfühlte, hätte sie den Priesterinnen lieber Gewänder aus Leinen geschenkt. Leinen aber war nur aus Ägypten zu beziehen, und da Avigail sich weigerte, jegliche Erzeugnisse von »diesem verachtungswürdigen Volk« im Haus zu dulden, musste sich Rakel mit Angora abfinden. Sie nahm ihre Stickerei wieder auf. »In meiner Kindheit hatten wir Habiru-Sklaven«, sagte sie. »Ungemein auf Reinlichkeit bedachte Geschöpfe. Anders als andere Völker werden sie per Gesetz zum Baden angehalten. Die Gesetze stammen von ihrem unsichtbaren und überdies namenlosen Gott. Äußerst merkwürdig. Wie kann man zu einem Gott beten, der keinen Namen hat? Wie kannst du da seine Hilfe und seinen Segen erflehen?«
»Halla!
Was treibt ihr denn da?«
In der Türöffnung stand Avigail. Leah legte eilends ihre Handarbeit beiseite. »Ist eine Nachricht eingetroffen, Großmutter?«, erkundigte sie sich. Bitte keine über einen Ehemann aus Damaska, damit ich David heiraten kann, flehte sie im Stillen.
»Kein Brief aus Damaska.« Avigail runzelte die Stirn. »Kind, worüber unterhältst du dich da mit Rakel?«
Leah ließ sich ihre Erleichterung nicht anmerken. »Ich glaube, ich kann Vater helfen, Großmutter! Tante Rakel kennt ein Mittel, um die Fallsucht von Ziras Sohn zu heilen. Vater kann es Zira unter der Bedingung anbieten, dass sie Jotham überredet, uns in Ruhe zu lassen.«
Mit geschürzten Lippen musterte Avigail Rakel, deren weißbehaartes Haupt sich wieder über eine aufwendige Stickerei beugte. »Jeder weiß, dass Fallsucht nicht geheilt werden kann, Leah. Dein Vater wird die Differenzen mit Jotham schon noch beilegen. Zerbrich du dir darüber nicht den Kopf. Stell ihr keine weiteren Fragen.«
»Aber Großmutter …«
»Sprich rasch ein Gebet und tu, was ich dir sage, Kind. Ich verbiete dir, deine Tante mit der Vergangenheit zu belästigen. Es ist ungehörig, schmerzvolle Erinnerungen in ihr wachzurufen. Keine weiteren Fragen, verstanden? Ruf Asherah an, damit sie dir dein vorwitziges Benehmen verzeiht.«
Avigail eilte zurück in den Küchentrakt, um die Vorbereitungen für das Abendessen zu überwachen. Sie war bitter enttäuscht, dass
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