Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
keine Nachricht von der Cousine eingetroffen war – und auch Leahs Versuch, Rakels Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, passte ihr ganz und gar nicht! Leise Zweifel keimten in ihr auf. Warum war sie so erschrocken, dass Leah die Tante mit Fragen bestürmte? Lag es wirklich nur daran, dass sie befürchtete, in Rakel könnten schmerzliche Erinnerungen geweckt werden? Vielleicht. Aber auch wegen etwas anderem …
Tante Rakels Gedächtnisschwund machte ihr zu schaffen. Wo war die starke Frau, die sie aus dem kriegserschütterten Jericho geführt hatte, die in den Dörfern entlang des Weges Schmuck gegen etwas zu essen eingetauscht hatte, die ihnen nachts, wenn sie unter den Sternen ihr Lager aufschlugen, Geschichten erzählt und ihren eigenen Kummer mit Rücksicht auf die anderen unterdrückt hatte? Ohne Tante Rakel hätten wir nicht überlebt …
Wenn sie an die Vergangenheit dachte, an die Zeit in Jericho und an das Haus, in dem sie geboren war, überkam Avigail eine namenlose Angst. Angst wovor? Sie schüttelte den Kopf. Es gab genug anderes, um das sie sich Sorgen machen musste. Um Jotham und seine Wechsel. Um Zira, die bei den Damen von Ugarits oberer Gesellschaft ihr Gift verspritzte. Avigails Familie war in Gefahr. Leah war ein gutes, gehorsames Mädchen. Sie würde ihre Großtante ab sofort in Ruhe lassen. Die Vergangenheit und was immer sie beinhaltete, würde Vergangenheit bleiben.
Ungläubig sah Leah ihrer Großmutter hinterher. Sie hatte fest angenommen, dass Avigail sich freuen würde zu erfahren, dass es möglicherweise eine Lösung für ihre Probleme gab. Warum hatte sie ihr untersagt, Tante Rakel über die Vergangenheit zu befragen?
Sie wandte sich Rakel zu, die den Wortwechsel nicht mitbekommen zu haben schien. Mit Blick auf das weiße Haar, das in der Nachmittagssonne leuchtete, keimte in Leah der Verdacht, dass die Lösung all ihrer Probleme in diesem empfindlichen Schädel verborgen war. Wenn sie nur irgendwie dahinterkommen könnte!
Aber Großmutter hat es mir verboten, und ich habe Asherah Gehorsam gelobt …
»Leah, Liebes«, nahm Tante Rakel das Gespräch wieder auf. »Worüber haben wir uns gerade unterhalten? Ach ja, es ging um das Heilmittel für Fallsucht. Für diese Medizin benötigte man die Blätter von Molochs Traum.«
Leah war verblüfft. Wie oft schon hatte sie Rakel danach gefragt, und jedes Mal hatte die Greisin behauptet, sie könne sich nicht erinnern! Jetzt, nachdem Großmutter Leah verboten hatte, weiterhin in der Vergangenheit herumzustochern, fiel es ihr plötzlich ein!
Das Heilmittel, das möglicherweise die gegenwärtige Krise der Familie beilegte. Ein Angebot, das mit Geld nicht aufzuwiegen war. Zira würde alles tun, um es an sich zu bringen.
»Molochs Traum?« Leah überlegte, ob sie sich bereits wieder ungehorsam verhielt, wenn sie nachhakte. »Was ist das?«
»Eine heilige Pflanze, deren sich unsere Ahnen bedienten, wenn sie ihre Kinder auf dem Altar des Moloch opferten. Um ihnen zu ersparen, im Feuer zu leiden, wurde ihnen Molochs Traum verabreicht, der ihre Seelen aus ihren Körpern befreite, so dass sie wie kleine Engel herumschwirrten und zusehen konnten, wie ihr Fleisch vom Feuer verzehrt wurde.«
Leah hatte noch nie davon gehört. »Hat die Pflanze zufällig noch einen anderen Namen?«
»Bei uns in Jericho hieß sie nur Molochs Traum. Wie sie hier in Ugarit genannt wird, weiß ich nicht. Sie hat einen langen Stängel und lange, stachelige Blätter, die sich von einem einzigen zentralen Punkt aus entfalten.«
»Wenn wir nicht wissen, wie sie in Ugarit heißt, wie sollen wir sie dann finden?«
Auf Rakels Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Ich erkenne sie, wenn ich sie sehe. Von gewöhnlichem Unkraut ist Molochs Traum nur schwer zu unterscheiden. Um ihn ausfindig zu machen, sollten wir dem Blumenmarkt in der Stadt einen Besuch abstatten.«
»Und du kannst mir zeigen, wie man aus Molochs Traum Medizin herstellt, Tante Rakel?«, fragte Leah mit wachsender Erregung.
»Ich kenne die Rezeptur. Wir müssen aber vorsichtig sein. Wenn wir zu viel von der Pflanze verwenden, entfernt sich die Seele zu weit vom Körper und findet nicht mehr zurück. Dann bleibt der Patient vom Schlaf umfangen und ist so gut wie tot.« Sie tätschelte Leahs Hand. »Morgen gehen wir in die Stadt und besorgen den Samen. Und jetzt möchte ich mich hinlegen.«
Leahs Garten, inzwischen nicht länger ein Geheimnis, da die neugierige Esther ihn schon vor Wochen
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