Im Auge des Feuers
erinnerte sich an die Uhr, die vor kurzer Zeit 3:30 angezeigt hatte, eine Uhrzeit, zu der niemand draußen war.
Er war allein, natürlich . Die Stimme, die er gehört hatte, musste einer Wahnvorstellung entspringen. Der Alkohol mal wieder … Der Herrgott hatte ihn schon wieder verlassen. Er machte einen schwankenden Schritt nach vorne.
»Komm lieber mit mir, Jens. Hier lang …«
Schon wieder diese Sinnestäuschung. Dennoch war die Stimme ganz nah an seinem Nacken.
Jemand packte ihn am Arm. Jens hörte wie aus weiter Ferne, dass er ein merkwürdiges, langgezogenes Wimmern ausstieß.
»Hier lang, Jens. Den Rest schaffst du selbst.«
Diesmal phantasierte er nicht. Er ließ sich willenlos führen, erahnte die Gestalt neben sich und war zu betäubt, um überhaupt noch Angst zu verspüren.
Er schien schwerelos zu sein. Dass er in Wahrheit fiel, bemerkte er kaum. Als das eiskalte Wasser ihn umschloss, wunderte er sich. Es war gar nicht so kalt, wie er immer befürchtet hatte.
Kapitel 58
Aslak Eira war ein weiteres Mal zur kirchlichen Stadtmission gefahren. Er hatte zwei Tassen Kaffee getrunken und sich lange angeregt mit einer der Sozialarbeiterinnen unterhalten, bis er schließlich einsah, dass Jens wohl wieder nicht erscheinen würde.
»Das ist schon ein bisschen komisch.« Die Frau wirkte besorgt. »Jens war den ganzen Herbst über fast täglich hier. Nur ein paar Mal tauchte er nicht auf. Da blieb er in irgendeinem Verschlag und kurierte eine Grippe aus. Ansonsten konnte ihn nichts davon abhalten herzukommen. Vor allem nicht an solch kalten Tagen wie heute.«
Es war einfach, sich das Bild des frierenden Jens auszumalen. Blaugefroren und dünn angezogen. Dennoch hatte Jens nicht krank gewirkt. Allerdings konnte es einen ja über Nacht erwischen. Eira nahm sich vor, Jens einige gute Rosskuren zu empfehlen, falls er ihn demnächst kränkelnd antreffen sollte. Gekochtes, glühend heißes Bier mit Honig und Kümmel, zum Beispiel. Wurde man von einem solchen Höllengebräu nicht gesund, war es wirklich ernst.
»Er hat keine eigene Unterkunft«, fügte die Frau vorsichtig hinzu. »Sucht sich immer wechselnde Quartiere. Im Sommer übernachtet er häufig in einem Durchgang oder auf einer Treppe.«
»Sie haben also keine Idee, wo man ihn finden könnte?«
Sie zögerte. »Es gibt viele verschiedene Stellen. Hören Sie, dieser Mann ist eine ziemlich arme Seele. Familie hat er nicht, soweit ich weiß. Seine Eltern und sein einziger Bruder sind tot.«
»Wissen Sie sonst noch etwas über Jens Eide, etwas Persönliches, meine ich.«
»Nicht viel. Wir wollen uns den Menschen, die zu uns kommen,nicht aufdrängen. Es sei denn, sie haben von sich aus das Bedürfnis, über etwas Bestimmtes zu sprechen. Jens ist nicht von der Sorte. Er möchte seinen Kaffee schlürfen und einfach nur über das Wetter reden, manchmal vielleicht noch über die neusten Nachrichten aus dem Radio.«
Eira dachte nach und griff zu seinem Handy. »Berger, überprüf doch bitte mal die Krankenhäuser unserer Stadt und sag mir, ob im Laufe der Nacht ein Obdachloser eingeliefert worden ist – ich bin auf der Suche nach Jens Eide.«
Zehn Minuten später war Berger wieder in der Leitung.
Man hatte Jens Eide in der Nacht zuvor aus dem Meer gezogen. Direkt vor dem Ishavshotel. Da er als alkoholabhängiger Obdachloser stadtbekannt war, hielt man einen Unfall im Rausch für höchst wahrscheinlich.
Eira sank auf den Stuhl, während er Bergers Stimme lauschte. »Ist er tot?«
»Bewusstlos.«
»Bewusstlos?«
»Die Zeit der Wunder ist noch nicht vorüber, Eira. Ein amerikanischer Tourist, der nicht schlafen konnte, stand am Hotelfenster und bewunderte das exotische Unwetter, das den Sund draußen peitschte. Mit dem Fernglas. Das Fenster ging nach Norden und er hat mehr als Wasser in Bewegung gesehen. Nämlich einen Mann, der im Wasser herumruderte.«
Eira sog hörbar Luft ein. Berger ließ ihm eine Weile Zeit, dann berichtete sie weiter. »Sofort wurde Alarm geschlagen. Die Rettungsmannschaft war innerhalb von Minuten da. Jens Eide war bereits untergegangen, aber er hatte ein wahnsinniges Glück, dass man ihn trotzdem bergen konnte. Er war dem Tod wohl schon ziemlich nahe, als sie ihn aus dem eiskalten Wasser herausholten. Hatte eine niedrige Körpertemperatur und einen hohen Promillewert. Man ging, wie gesagt, davon aus, dass das ein Unfall war.«
Eira hatte sich wieder gefasst. »Wusstest du, dass unterkühlte Menschen im Allgemeinen nicht so
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