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Im Auge des Feuers

Im Auge des Feuers

Titel: Im Auge des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorun Thoerring
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ihren Fisch fürs Mittagessen direkt von den Booten erworben hatten. Fischer in blauen Overalls und Schiffermützen packten die Ware auf die Waage und behaupteten, dass ihr Fang der frischeste und beste war, den man an diesem Tag bekommen konnte.
    Eine Verlängerung des Anlegers führte aufs Wasser hinaus. Hier hatte Jens gewöhnlich gesessen, den Möwen die Krabbenschalen zugeworfen und dabei das Leben auf dem Kai beobachtet. Jetzt fühlte er sich an eine verlassene Theaterbühne erinnert. In seinemKopf hallte noch das Geräusch des Menschengewimmels wider, aber heute Nacht waren nur dumpfe Wellenschläge gegen die breiten, von Grünalgen überwachsenen Pfähle des Anlegers zu hören.
    Er schwankte unsicher zum Rand des Kais und öffnete ohne Scham den Hosenschlitz. Jens ließ den Strahl in einem großen Bogen auf die Wellen treffen, seufzte leise und zufrieden und ging wieder zurück.
    Beim Fischhändler Dragøys sah er lange ins Fenster und hatte einen Wachtraum von warmen Fischfrikadellen.
    Nach einigen Minuten fiel ihm auf, dass er in die Gegend gekommen war, in der sein Bruder und er sich früher oft herumgetrieben hatten – erst nach dem Brand von 1969 war hier das elegante Hafenviertel mit Hotels und Restaurants entstanden.
    Jens sah blinzelnd auf den Sund hinaus. Das war die Stelle, an der er in der Unglücksnacht gestanden und nach seinem Bruder Ausschau gehalten hatte. Der Wind wirbelte Schnee auf und plötzlich sah Jens ein Bild glasklar vor seinem inneren Auge: den Rauch, der damals in dichten Schwaden vom Hafengebiet aufgestiegen war, und die Hand, die ihn am Arm gezogen hatte.
    Der Same mit den kleinen scharfen Augen und der ruhigen Stimme hatte Fragen gestellt, die sein Gedächtnis auf eine neue und unentdeckte Frequenz geeicht hatten.
    Eine eigenartige Begegnung, die er vergessen, Worte, die er verdrängt hatte. Wartest du auf jemanden, Jens? Hier ist niemand, glaub mir. Ich denke nicht, dass du hier stehen bleiben solltest. Es kann gefährlich für dich werden, das Feuer breitet sich aus. Komm lieber mit mir, lass uns hier langgehen.
    Eine Gestalt direkt neben ihm. Und noch eine. Hatte er nicht zwei gesehen? Ja, doch, zwei Personen.
    Seine Füße bewegten sich mit unsicheren Schritten vorwärts. Es war genau hier, an dieser Stelle, gewesen. Vor sich sah er auf einmal nicht mehr schmucke Hotel- und Geschäftsgebäude, sonderndie alten Speicherhäuser. Von hier war er die brennende Gasse zu Fjelds Büros hinaufgegangen. Im Hinterhof mit den Kartons wütete bereits das Feuer und am Rand des brennenden Hauses stand die halbvolle Flasche, die sein Bruder dort stehen gelassen haben musste. Die Person, die ihn am Arm gefasst hatte, führte ihn vorbei, von dort weg.
    Dass er nun meinte, dieses Bild deutlich vor sich zu sehen, musste vom Herrgott bewirkt worden sein. Es war so klar und deutlich. Die sympathische junge Frau von der Stadtmission hatte ihm immer nahegelegt, dieses göttliche Licht zu suchen. Bis jetzt hatte er es nur gesehen, wenn die Sonne sich in einer gut gefüllten Wodkaflasche spiegelte.
    Und Jens erinnerte sich auf einmal an einiges mehr: An die halb offen stehende Hintertür zu Fjelds Bürogebäude. An eine Gestalt, deren Rücken er gesehen hatte, als er halb vorbeigezogen, halb vorbeigeschoben wurde. Und an Töne, Geräusche, Stimmen.
    Darin, was er gesehen hatte, mochte er sich vielleicht irren, nicht aber darin, was er gehört hatte.
    Natürlich hätte er stehen bleiben und nachfragen sollen, was eigentlich vor sich ging. Der Gerechtigkeit halber musste gesagt werden, dass schließlich andere hinzugekommen waren. Er selbst war von Alkohol und Rauch vollkommen benebelt gewesen und hatte sich vor allem Sorgen um Frank gemacht.
    Ja, er konnte dem Samen durchaus etwas erzählen, wenn sie sich später treffen würden.
    »Wartest du auf jemanden, Jens?«
    Jens hob den Blick und starrte auf die weiße, glatte Wand vor sich. Er war so tief in seine Erinnerungen versunken gewesen, dass er niemanden hatte kommen hören. Schlagartig wurde ihm übel. Hatte er Hirngespinste? Aber die Kälte war real. Der Wind biss bis ins Mark und die Kraft wich aus seinem Körper.
    »Glaub mir, hier ist niemand außer dir.«
    Die Stimme schien direkt hinter ihm zu sein, aber sie konnte genauso gut als Echo aus der Vergangenheit herüberschallen. Bildete er sich nur ein, etwas zu hören? Er brachte es nicht fertig, sich umzudrehen.
    Es musste die Kälte sein, die seinen Körper so heftig erzittern ließ. Jens

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