Im Auge des Feuers
Frau hat was Zerstörerisches an sich. Wer mit ihr zusammenleben möchte, muss das dauerhaft in Kauf nehmen. Armer Niillas.«
Da Niillas im Moment nicht da war, ließ Eira das Essen ausfallen. An der Wand über der Kellertreppe hing eine Keule getrocknetes Fleisch. Er holte sie herunter und schabte langsam dünne Scheiben ab, die er zusammen mit Fladenbrot kaute. Dabei dachte er über Monas Worte nach.
Victoria und Gunhild, zwei seelenverwandte Wesen? Jedenfalls machte ihn der Gedanke an Gunhild jetzt richtig unruhig und raubte ihm den Appetit. Er hängte das getrocknete Fleisch und das Schneidebrett zurück an die Wand. Dann zog er sein Handy aus der Hosentasche, wobei Victorias Foto herausfiel. Eira fluchte leise und betätigte die Tasten des Handys.
»Mona? Ich bin’s noch mal. Niillas ist nach wie vor nicht bereit, endlich mal wieder einen Abend mit seinem Vater zu verbringen. Was hältst du davon, hierherzukommen? Ich muss über Frauen sprechen.«
Einen Moment blieb er sitzen und betrachtete Victorias Passbild, das eben zu Boden gefallen war. Dann hob er es auf und befestigte es mit Klebeband am Schneidebrett, nahm das Messer in die Hand und ging ins Wohnzimmer. Von hier aus hatte er die größtmögliche Entfernung bis zu der Wand, an der das Schneidebrett hing. Eine gerade Linie. Wunderbar. Er liebte Herausforderungen. Das Messer zischte durch die Luft und bohrte sich mittig in das Bild.
Schließlich nahm er alles herunter und ließ das geschlitzte Foto im Mülleimer verschwinden.
Kapitel 57
2. November 2007
Jens Eide betrachtete die blaulila Haut über seinen Handgelenken und sann einen Moment darüber nach, warum er sich nie ein Paar Handschuhe angeschafft hatte. Aber was sollte er eigentlich mit Handschuhen? Er fror nicht mehr, fühlte die Kälte nicht, auch wenn der Frost mittlerweile dieses Marmormuster in Blau und Lila auf seine Haut gezeichnet hatte. Manchmal war er so durchgefroren, dass er sicherlich beinahe die Grenze zum Erfrieren überschritt. Aber das sagte nur der Kopf, denn der Körper war ja schon lange jenseits jeglicher Empfindungen.
Er hatte auf einer Treppe hinter der Heilsarmee, in der Gasse zwischen Grønnegata und Storgata, im Sitzen geschlafen. Zu dritt hatten sie sich Schnaps, Vollkornbrot und ein Päckchen Salami geteilt. Er war so entsetzlich betrunken und müde gewesen, dass er eingeschlafen war und auch nicht gehört hatte, wie die Kumpanen ihrer Wege gegangen waren.
Jens’ Rücken war in einer merkwürdigen, schiefen Sitzhaltung erstarrt, ebenso sein Nacken. Er brauchte lange, um den Körper vorsichtig wieder in seine natürliche Stellung zu bringen. Früher war das nie ein Problem gewesen. Das Alter machte sich nun wohl doch langsam bemerkbar.
Diesen Winter würde er vielleicht noch durchhalten. Und den nächsten Frosteinbruch? Wenn das so weiterging, konnte er sich auf ein baldiges Ende einstellen. Oder bestand noch irgendein Fünkchen Hoffnung darauf, dass er auf seine alten Tage eine feste Bleibe fände? Einen regelmäßigen Job, um so was bezahlen zu können? Möglicherweise sogar einen edlen Gönner?
Jens wunderte sich, wie er überhaupt auf solche Gedanken kommen konnte. Seine Kumpels wären zutiefst schockiert gewesen, wenn er derlei Dinge laut ausgesprochen hätte.
Seine Blase war randvoll. Aber dies war kein geeigneter Ort zum Wasserlassen. Jens stand auf und humpelte zur nächsten Hausecke. Es schneite in dicken Flocken. Jens blickte die Storgata hinab. Alles war menschenleer. Auf der anderen Seite lag das Meer offen und glitzernd da. Hier konnte er sich nach Herzenslust erleichtern, ohne dass jemand Anstoß daran nehmen würde. Die Uhr an der Wand eines Versicherungsgebäudes zeigte 3:30. Er war mittlerweile nüchtern genug, um zu wissen, dass er die Nacht nicht hier draußen fortsetzen konnte. Ein geeigneter Unterschlupf musste her. Sonst wäre dies sicherlich seine letzte Nacht.
Der Wind trieb Papier und weggeworfene Pappbecher vor sich her, als Jens mit wackligen Schritten auf den Sund zusteuerte. Ein paar Boote waren für die Nacht vor Anker gegangen und schaukelten in den aufgewühlten Wellen. Das große Seefahrerdenkmal thronte als dunkle, dramatische Silhouette vor ihm. Es zeigte einen Fischer bei stürmischem Wetter draußen auf dem Meer, auch er eingeschneit und im Kampf mit den Elementen. Ein Bruder im Geiste.
Jens erinnerte sich, wie er hier als Gymnasiast Krabben gekauft hatte, wenn die Frühlingssonne zu wärmen begann, wie die Hausfrauen
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