Im Auge des Orkans
ich vor
einer Stunde bei ihm hereinschaute, schlief er. Er wird das fehlende Licht
nicht merken.«
»Wo sind die Taschenlampen, Neal?«
fragte Sam.
»Ich weiß es nicht. Aber in einer der
Schubladen liegen Kerzen. Unterhalb der Seegeschichte.«
»Wo?«
»Zweites Regal von der Tür.«
»Okay. Ich hole sie.« Ich hörte Sam
langsam in Richtung Tür gehen und dann eine Schublade aufziehen. »Ich habe sie
gefunden. Hat jemand Streichhölzer?«
Schweigen.
»Vielleicht sind welche im
Schreibtisch.« Wieder war das Geräusch einer sich öffnenden Schublade zu hören,
dann ein Herumkramen.
Angela stand so still, daß ich ihren
Atem kaum bemerkte. Die Dunkelheit war total. Ich konnte keine Umrisse, Formen
oder Schatten ausmachen. Es mußte draußen wirklich völlig dunkel sein — auf der
ganzen Insel, vermutlich im ganzen Delta. Ich erschauerte.
»Ich hab Streichhölzer gefunden«,
verkündete Neal.
»Gib sie mir!« Ich hörte Sam eine Kerze
auf den Schreibtisch stellen, und dann flackerte Licht auf. Er stellte die
dicke rote Kerze in einen Aschenbecher, mitten auf die Schreibtischunterlage.
Ich blickte um mich. Angela stand mit
gesenktem Kopf da. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst und hing ihr über den
Nacken, was sie sehr verletzlich aussehen ließ. Neal saß zusammengesunken in
seinem Sessel. Sam lehnte steif am Schreibtisch.
Nach ein paar Sekunden hob Angela die
Augen und sagte: »Wenn Sie nichts dagegen haben, Sharon, dann — «
Ich warf Sam einen fragenden Blick zu.
Sam zuckte die Achseln. »Lassen Sie sie
los. Bei diesem Sturm kann sie von der Insel nicht weg.«
Ich gab Angela frei. Sie rieb sich
wütend die Arme und ging auf den Sessel zu, in dem ich gesessen hatte.
Seit das Licht erloschen war, herrschte
im ganzen Haus eine ungewöhnliche Stille. Jetzt entstanden Geräusche, eilige
Schritte, das Jammern eines Kindes, Worte. Die Bibliothekstür öffnete sich und
Denny erschien im Türrahmen, in jeder Hand eine Taschenlampe.
»Hallo, hallo!« sagte er.
Sam lächelte grimmig und holte sich
eine der beiden Taschenlampen. »Ich bin froh, daß du wußtest, wo sie aufbewahrt
werden.«
»Hatte keine Ahnung. Aber
glücklicherweise fand ich sie in der Anrichte.«
»Ich dachte, du hättest dich darum zu
kümmern.«
»Ich habe sie gekauft, aber das heißt
nicht, daß ich weiß, wo sie die anderen hinlegen.«
»Kannst du den Hilfsgenerator
flottmachen?«
»Vielleicht, aber ich brauche Hilfe.«
»Wie wär’s mit mir. Neal, kommst du
mit?«
»Klar.« Es klang nicht begeistert.
Die drei verließen die Bibliothek. Ich
wandte mich zu Angela und sagte: »Wir sollten nach Ihrem Großvater sehen.«
Ihre Augen verengten sich, sie schien
eine scharfe Antwort geben zu wollen. Dann besann sie sich eines besseren und
stand auf: »Ja, tun wir das.«
Das Wohnzimmer war leer. Der Wind
fauchte im Kamin und blies Asche vom Rost. Der Regen platschte gegen die
Scheiben, als würde man Wasser eimerweise gegen die Fenster gießen. In der
Halle spiegelte sich das Kerzenlicht in den Prismen des Kronleuchters. Angela
ging mir voraus ins Untergeschoß und den Gang entlang.
Am anderen Ende des Ganges konnte ich
ein Kind monoton weinen hören, vermutlich Jessamyn. Der Wind heulte um das Haus
und rüttelte an den Fenstertüren der Bar, als wollte er sie aus den Angeln
heben. Das Jammern des Kindes wurde zum Schreien, dann rief Patsy: »Sei still,
verdammt!«, und ein klatschendes Geräusch war zu hören.
Ich blieb stehen. Aber das ging mich
nichts an — oder doch?
Stille. Dann hörte ich Patsy sagen: »O
Gott, es tut mir leid!« Sie begann zu weinen. Durch ihr Geschluchze hörte ich
Andrew sagen: »Ist schon gut, Mom. Ich finde die Taschenlampe, und du brauchst
dich nicht mehr aufzuregen.«
Mein Neffe wieder in der Rolle des
Familienvorstandes, dachte ich. Wo war Evans?
Angela war auch stehen geblieben. Sie
sah mich fragend an. Ich schüttelte den Kopf, und wir gingen weiter.
Als sie die Tür zum Zimmer ihres
Großvaters geöffnet hatte, rief sie entsetzt: »Wo ist er?«
Mir fiel ein, daß ich ihr nichts von
meinem Verschieben des Bettes erzählt hatte. »Links von der Tür«, erwiderte
ich. »Als ich vorhin nach ihm sah, war es so kalt beim Fenster. Da habe ich das
Bett in eine wärmere Ecke geschoben.«
Sie ging auf das Bett zu. Dann blieb
sie abrupt stehen und packte meinen Arm. Der Griff war so fest, als sei ihre
Hand aus Metall. »Sehen Sie doch nur!«
Ich trat neben sie und hielt die Kerze
höher. Tin Choy
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