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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Won lag auf dem Rücken wie vorhin, aber die Zudecke war in
Unordnung, der Bettüberwurf, mit dem ich ihn noch zusätzlich zugedeckt hatte,
war halb herabgeglitten. Seine Arme waren gespreizt, der Kopf zur Seite
gedreht. Spucke war ihm aus dem Mund getropft. Er war sehr still.
    Ich machte mich von Angela los, gab ihr
die Kerze, damit sie mir leuchtete, und trat ans Bett.
    Ich beugte mich über den alten Mann.
Seine Haut hatte eine bläuliche Färbung. Ich ergriff sein Handgelenk und suchte
nach seinem Puls, dann legte ich meine Finger an seinen Hals, um die Arterie zu
fühlen. Das Fleisch war noch warm, aber das Blut floß nicht mehr durch seinen
Körper.
    Angela stand da wie angefroren. Die
Kerzenflamme flackerte im Luftzug.
    Ich nahm die Hand weg und richtete mich
auf. Was war passiert? Ein Herzanfall? Hatte er sich an seiner eigenen Spucke
verschluckt? Der Mann war sehr alt gewesen. Während wir uns in der Bibliothek
um Geld stritten, hatte er die letzten Augenblicke seines Lebens durchlebt — allein
und hilflos.
    Ich zog das Laken über sein Gesicht.
»Es tut mir entsetzlich leid«, sagte ich zu Angela.
    Sie starrte mich ausdruckslos an, und
dann liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Ich versuchte nicht, sie zu
trösten. Das hätte sie nicht gewollt. Ich nahm ihr die Kerze aus der Hand, und
da sah ich das Kopfkissen auf dem Boden neben dem Bett.
    Ich blickte zum Fußende, wo ich vorhin
das hinuntergefallene Kopfkissen hingelegt hatte. Die Stelle war leer. Dies
hier glich ihm. Es steckte in einem Bezug, der mit kleinen roten Tulpen
bedruckt war. Ich hob das Kopfkissen auf und untersuchte es. Die Seite, die auf
dem Boden gelegen hatte, war zerdrückt und eingebeult. In der Mitte der Beule
war ein feuchter Fleck — stammte er von dem Speichel, der Tin Choy Won aus dem
Mund getropft war? Wer, dachte ich. Und wann und warum?
     
     
     

22
     
    Im ersten Augenblick überlegte ich, ob
Angela ihren Großvater ermordet hatte. Bei meinem Besuch bei ihm in Locke hatte
er etwas davon gesagt, daß sie ihn umbringen wolle. Damals hatte es wie ein
Scherz geklungen, aber vielleicht hatte er es tatsächlich ernst gemeint.
    Doch warum hatte sie dann so lange
gewartet? Sie hätte doch eine viel günstigere Gelegenheit wahrnehmen und alle
Spuren verwischen können.
    Außerdem konnte sie ihn gar
nicht getötet haben. Sie war mit Neal in der Bibliothek gewesen, schon lange,
ehe Sam und ich zu ihnen gestoßen waren. Jemand mußte gewartet haben, bis Sam
und ich aus dem Büro nach oben gegangen waren, und dann in Mr. Wons Zimmer
geschlüpft sein.
    Aber warum? Weil er noch mehr wußte,
nicht nur die Sache mit den Unterschlagungen? Weil er etwas Verdächtiges
gesehen hatte? Das erschien mir sehr unwahrscheinlich. Außer mit Angela hatte
er mit kaum jemandem Kontakt gehabt.
    Angela. War sie wirklich die ganze Zeit
in der Bibliothek gewesen? Und was diesen Punkt anbetraf, konnte ich auch wegen
Neal nicht sicher sein. Und Sam? Ich wußte nicht genau, ob er die ganze Zeit
auf seinem Zimmer geblieben war, ehe wir in die Bibliothek zu Angela und Neal
hinuntergegangen waren.
    Hör auf, ermahnte ich mich. Mit solchen
Überlegungen machst du dich nur verrückt. Als nächstes verdächtigst du noch die
Kinder. Ich legte das Kopfkissen ans Fußende und sagte zu Angela: »Gehen wir
hinauf, Sie brauchen einen Brandy.«
    »Ich möchte nichts trinken.«
    »Aber ich gehe hinauf und nehme die
Kerze mit.«
    Es sah so aus, als wollte sie darauf
beharren, im Zimmer ihres Großvaters zu bleiben, doch dann sagte sie: »Wie Sie
wollen« und ging zur Tür.
    Ich schloß sie fest hinter mir und
folgte ihr durch den Gang zur Treppe. In der Wohnung meiner Schwester war alles
still. Nur der Wind heulte, der Regen rauschte. Als wir in der Halle ankamen,
waren Stimmen zu hören. Denny, Sam und Neal waren im Wohnzimmer. Ihre
Taschenlampen warfen groteske Schatten. Stephanie kniete beim Kamin und
versuchte, das Feuer wieder zu entfachen. »Erzählen Sie noch nichts vom Tod
Ihres Großvaters«, sagte ich leise zu Angela. »Ich berichte es ihnen, wenn ich
festgestellt habe, daß keines der Kinder anwesend ist, und zwar so, daß keiner
in Panik gerät.«
    Sie zog befremdet die Brauen hoch.
»Warum sollten sie in Panik geraten? Er ist gestorben. Das tun die Leute jeden
Tag.«
    Wenn ich nicht vorhin ihre Tränen
gesehen hätte, würde ich sie für herzlos gehalten haben. »Manchen Leuten behagt
es nicht, in einem Haus zu sein, in dem ein Toter liegt«, antwortete ich.

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