Im Auge des Orkans
dachte ich das, bis ich die eingeschlagene Scheibe neben dem
Beifahrersitz sah. Die Tür zum Handschuhfach lag auf dem Sitz, der Inhalt war
über den Boden verstreut. Nur eines fehlte — die 38er war verschwunden.
Entgeistert starrte ich auf das
aufgesprengte Handschuhfach. Ich war überzeugt, daß der Mörder diese Verwüstung
angerichtet hatte. Aber wieso hatte er gewußt, wo die Waffe gewesen war? Nicht
einmal meine Schwester hatte eine Ahnung von meinem Waffenversteck.
Da fiel es mir ein — natürlich. Nach
meinem Ausflug zu Max’ Hütte hatte ich die Waffe wieder im Handschuhfach
verstaut. Jeder hätte mich dabei beobachten können, obwohl ich mich erst in den
Wagen gesetzt hatte, bevor ich die Waffe aus der Tasche nahm.
Ich preßte mein Gesicht gegen das
kalte, feuchte Wagendach. Hilflosigkeit und Wut stiegen in mir hoch, und ich
schlug mit den Fäusten gegen das Metall, bis ich erschöpft war. Schließlich richtete
ich mich auf und kämpfte mich durch Wind und Regen zurück ins Haus.
Sam kam gerade aus dem Wohnzimmer.
Hinter ihm konnte ich Neal sehen, der Decken und Kissen vor dem Kamin aufbaute.
Angela lag mit geschlossenen Augen auf einem Sofa, eine Decke bis ans Kinn
hochgezogen. Ich blieb vor Sam stehen und starrte ihn an. Was wußte ich
eigentlich von ihm? Konnte ich ihm trauen? Das hatte ich zuvor schon getan,
aber da handelte es sich nur um finanzielle Probleme, sein Fachgebiet. Hier
ging es um Leben und Tod, und ich wußte nicht, wie er reagieren würde.
Vielleicht geriet er in Panik oder, was noch schlimmer war, würde mir nicht
glauben.
»So einen Blick habe ich mal bei einer
Sitzung gesehen, als man versuchte, den Generaldirektor abzusetzen«, sagte Sam.
Wieder beschloß ich, die Wahrheit zu
sagen. »Ich muß mit Ihnen sprechen. Aber nicht hier. Wo wir ungestört sind.«
»In der Bibliothek.«
Das Zimmer war noch kälter als vorhin.
Ich zog Dennys Regenmantel aus und ließ ihn auf einen Stuhl fallen. Ich schloß
die Tür hinter mir, während Sam seine große Taschenlampe auf den Schreibtisch
legte.
»Was gibt es?« fragte er.
»Wir haben ein Problem. Schlimmer als
Mr. Won oder der Orkan.«
»Ja, Angela ist in ziemlich schlechter
Verfassung — «
»Sam... Tin Choy Won wurde ermordet.
Mit einem Kissen erstickt.«
Schweigen. Sam strich sich mit dem
Finger über den Schnurrbart. »Mein Gott, weiß sie es?«
»Keiner weiß es, außer Ihnen und mir.
Aber es kommt noch schlimmer. Jemand hat meine Waffe aus meinem Auto gestohlen!«
Er atmete tief ein, hielt ein paar
Sekunden die Luft an und atmete explosionsartig wieder aus.
»Sam, wer immer Mr. Won getötet und die
Waffe gestohlen hat —«
»Ist einer von uns.«
»Ja. Und ich habe keine Ahnung wer!«
23
Gegen elf Uhr an jenem Abend wußte ich,
wie sich ein einigermaßen friedfertiges Tier fühlt, wenn es mit Vertretern
nicht ganz so friedlicher Arten eingesperrt ist.
Zuerst hatten die Bewohner unseres
selbstgebauten Käfigs getan, als sei der Orkan ein großes Abenteuer. Wegen der
Kinder, hatte Patsy behauptet, doch ich spürte, daß sie dieses
Täuschungsmanöver auch um ihres eigenen Seelenfriedens aufrechthielt. Evans
hatte Sandwiches gemacht, dazu gab es rohes Gemüse mit Saucen, Popcorn und
Kaffee, den er über den brennenden Scheiten im Kamin kochte.
Nach dem Essen bettete Patsy Kelley und
Jessamyn in Steppdecken auf den Fußboden und erzählte ihnen ein Märchen, das
Denny dann weiter ausspann, indem er eine zornige Ente erfand, die bei Rio
Vista eine Zugbrücke bediente. Auch alle anderen beteiligten sich an diesem Spiel.
Ich saß etwas abseits auf einem Kissen
beim Durchgang zur Halle. Die Szene vor mir erschien mir seltsam unwirklich.
Eine Atmosphäre unterdrückter Angst war im Zimmer zu spüren. Natürlich war ich
für sie empfänglicher als die übrigen, da ich wußte, daß einer der Erzähler ein
Mörder war. Seine früheren Aktionen hatten bewiesen, daß er auch nicht davor
zurückschreckte, Kinder als hilflose Schachfiguren in seinem Spiel des Terrors
zu verwenden.
Gegen Mitternacht war von den Kindern
nur noch Andrew wach. Er hatte seine Kissen und Decken zur anderen Seite des
Zimmers getragen, an die Wand zwischen zwei Fenstern. Als Patsy protestierte,
weil es dort zu kalt sei, hatte er sie einfach nicht beachtet. Auch auf Evans,
der seine Partei ergriff, reagierte er nicht. Er baute sich sein Nest, legte
den Zeichenblock auf die Knie und begann zu zeichnen. Ich entdeckte, daß er mir
hin und wieder einen
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