Im Augenblick der Angst
überging. Und unter diesem immerhellen Himmel lagen die Tiefen des Lake Michigan, schwarze Wellen mit weißen Schaumkronen. Obwohl Tom nicht segeln konnte, hatte er sich immer ein Segelboot gewünscht. Jetzt stellte er sich vor, wie er über den See segelte, sich am Rand der dunklen Strömung entlangtragen ließ wie an der Kante eines Traums, nur er und Anna und der kalte Wind, der tiefe Schoß des Wassers und die glühenden Lichter der Stadt in ihrem Rücken. Die ganze Nacht segeln, nach Osten, in einen frischen Sonnenaufgang hinein, von jeder Schuld befreit, weil es nur noch sie beide gab.
»Woran denkst du, Liebling?«, fragte Anna.
»Was Jack vorhin gesagt hat.« Sofort war er zurück in ihrer Wohnung, das Messer in der Tasche, die Adern voller Adrenalin, und sah, wie Jack mit einer einzigen Geste ihr Wohnzimmer umfasste, ihre Ehe, ihr ganzes Leben. »Er wollte wissen, warum wir das Geld genommen haben. Was wir denn noch wollen, was wir nicht schon haben.«
»Und?«
»Ich wusste nicht, was ich sagen soll. Klar, so gut, wie es für ihn ausgesehen haben muss, stehen wir natürlich nicht da. Er wusste nichts von der Hypothek und von den Fruchtbarkeitsbehandlungen, er wusste nicht, wie sehr wir uns ein Kind wünschen und wie sehr du deinen Job verabscheust. Aber …« Tom hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ich weiß nicht. Trotz allem lag er gar nicht mal so falsch.«
In der Stille konnte er ihre Atemzüge hören. »Also ich sehe das so«, sagte Anna. »Alles pendelt sich ein. Alles kommt früher oder später ins Gleichgewicht.« Sie sprach leise. »Ich glaube, reiche Leute sind im Prinzip genauso glücklich wie arme Leute. So sind wir nun mal gebaut. Wenn es eine Zeit lang gut läuft, denken wir gleich, dass es immer so sein muss. Und wenn es schlecht läuft, gewöhnen wir uns daran. Egal was passiert, wir gleichen es im Kopf aus.«
»Ist das nicht arg praktisch gedacht?«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, ist das nicht eine sehr bequeme Sichtweise? Wenn man so denkt, muss man sich um nichts mehr kümmern. Man muss sich nicht mehr bemühen, irgendwas zu ändern, man ist von jeder Verantwortung befreit.«
»Aber deshalb ist es doch nicht falsch. Wenn du jemandem eine Million Dollar schenkst, wird er es eine Zeit lang krachen lassen, aber bald ist wieder alles beim Alten. Der Kick ist weg, und am Schluss geht es ihm eigentlich wie immer.«
»Und was für einen Sinn hat das alles dann?«
»Ich weiß nicht. Ein gutes Leben leben. Die Mitmenschen gut behandeln. Eine Familie gründen und sie lieben, wie sie es verdient hat.«
Tom dachte über ihre Worte nach, während er auf die ineinanderfließenden Lichter an der Decke starrte. »Vielleicht hast du Recht. Wenn ich daran denke, was für Probleme wir früher hatten, frage ich mich wirklich, was eigentlich mit uns los war. Ich meine, haben wir uns echt über diesen Schwachsinn aufgeregt? Der ganze Kram, der uns damals so wichtig vorkam, war doch im Grunde …« Er hielt die Hand vor den Mund und blies leicht, als würde er die Samen einer Pusteblume durchs Zimmer fliegen lassen.
»Ich weiß«, sagte sie. »Die endlosen Sorgen über die bescheuerte Werbung, über die Raten für die Hypothek. Sogar über das Kind.«
Eine lange Stille entstand. Das langsame Pulsieren in Toms Hand teilte die Zeit in gleichmäßige Intervalle ein. »Wir waren gierig«, sagte er schließlich.
»Ja«, antwortete sie, »das waren wir wohl.«
Gegen sechs Uhr morgens hielt er es nicht mehr aus. Seine Finger schmerzten, seine Schläfen hämmerten, und irgendjemand schien seine Nieren gepackt und gewaltsam verdreht zu haben. Tom rollte sich aus dem Bett und ging auf Zehenspitzen ins Bad, schloss die Tür hinter sich und stellte die Dusche an. Er setzte ein Tab in die Kaffeemaschine ein, überlegte es sich anders und stopfte ein zweites Tab dazu.
Unter der Dusche stand er einfach da und ließ das Wasser auf sich herabströmen. Als kompakter Strahl prasselte es auf seinen Kopf und rieselte in feinen Spritzern nach unten, die die Außenwelt verschleierten und den Schmerz ein wenig linderten. Es war ein wundervolles Gefühl – ein Moment der Stille hinter einem Vorhang aus Wasser. Das einzig Störende war, dass er dabei die linke Hand hochrecken musste, außer Reichweite der Tropfen.
Widerwillig trat er aus der Dusche und trocknete sich ungeschickt ab. Wenigstens hatten sie jetzt einen Plan – dadurch fühlte er sich schon etwas besser. Ja, vielleicht hatten sie
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