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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sarkey
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schlecht, Mr. Reed, nicht schlecht.«
     
    Anna saß auf der Bettkante und sah zu, wie ihr Mann über einen Mord verhandelte.
    Die Ringe um Toms Augen waren tiefschwarz, aber seine Stimme zitterte nicht, und seine Worte waren sorgfältig gewählt. Trotz allem war er immer noch stark. Anna spürte eine Welle der Liebe, und noch etwas anderes … Stolz? Vielleicht war es falsch, stolz darauf zu sein, dass sich der eigene Mann gegenüber Gangstern behaupten konnte. Aber das war ihr egal. Hier und jetzt standen sie beide gegen den Rest der Welt. Die Popcorn-Moral konnte warten. Vielleicht würde sie der Gedanke daran, was sie Jack Witkowski angetan hatten, eines Tages quälen, vielleicht würde diese Tat Tom und sie bis an ihr Lebensende verfolgen. Aber sie bezweifelte es.
    »Einfach so werde ich es Ihnen nicht verraten«, sagte Tom.
    Dann: »Ich stehe auf Ihrer Seite, aber ich bin kein Idiot.«
    Danach: »Das ist eine Möglichkeit.«
    Und schließlich: »Morgen Vormittag.«
    Er klappte das Telefon zu – und klappte es wieder auf, um es auszuschalten. Nachdem das Abschiedspiepen verklungen war, legte Tom das Handy aufs Fensterbrett und setzte sich in den Sessel, ein kastenförmiges, ausladendes Ding im Mod-Stil. Er ließ die Arme auf den Lehnen ruhen, schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück. »Er will sich zum Frühstück mit uns treffen.«
    »War er einverstanden?«
    »Er war hocherfreut. Ich glaube, das ist ihm noch lieber, als seine Drogen zurückzubekommen.«
    »Und du meinst, danach wird er uns in Ruhe lassen?«
    »Ich glaub schon. Er wirkt irgendwie … professionell. Auf jeden Fall glaubt er uns, dass wir die Drogen nicht haben – ich meine, warum sollten wir lügen? Wir können sie ja schlecht an der nächsten Straßenecke verkaufen. Außerdem sind wir weiß, gebildet, fest angestellt und zahlen immer pünktlich unsere Steuern. Wenn er uns umbringt, muss er mit gründlichen Ermittlungen rechnen. Und warum sollte er das riskieren? Außerdem, wenn wir ihm erst mal geholfen haben …« Tom verstummte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
    Anna sprach den Satz im Kopf zu Ende, nur um es auszuprobieren. Da war ein kleiner Stich, zweifellos, ein kurzes Gefühl der Reue. Aber der Sturm, der in ihr tobte, hatte viel mehr mit Angst zu tun – mit der Angst, dass es nicht funktionierte, dass irgendwas schiefging, dass Tom etwas zustieß. Verglichen damit war dieses Aufblitzen der Moral nur ein Tropfen in einer Flutwelle. Aber war das nicht ganz normal? Wer würde seine Liebsten nicht über alles andere stellen? »Und was jetzt?«
    Mit seiner guten Hand kratzte sich Tom die Stirn. »Vielleicht läuft ja was Gescheites im Fernsehen?«, fragte er achselzuckend.
     
    Sie hatten die Vorhänge nicht zugezogen, so dass die Lichter der Stadt an der dunklen Decke schwammen. Erst vor zwei Minuten hatte Tom auf die Uhr geschaut. Er wusste also, dass es kurz nach drei war, und trotzdem verspürte er einen starken Drang, noch einmal nachzuschauen. Aber er tat es nicht.
    Der Schmerz in seiner Hand hatte sich mit seinem Herzschlag synchronisiert – bei jedem Pulsieren schwollen seine Finger an und wieder ab. Tom erinnerte sich daran, wie er sich einmal mit einem Arzt über Magenschmerzen unterhalten hatte; damals forderte ihn der Doc auf, den Schmerz auf einer Skala von eins bis zehn einzuordnen, was Tom sehr merkwürdig fand. Woher sollte man wissen, was Schmerz wirklich bedeutete? Konnte es nicht immer noch schlimmer werden? Im restlichen Leben war es ja auch nicht anders. Man denkt, man hat langsam den Durchblick, man weiß, was gut und was böse ist, und dann, zack!, passiert irgendetwas, das sämtliche Orientierungspunkte verschiebt.
    »Sind wir gierig?«, fragte er in die Dunkelheit.
    Nach einer Weile antwortete Anna. »Weil wir das Geld genommen haben?«
    »Nein. Ja.« Er starrte auf die schwachen Lichtschemen an der Decke. »Nicht nur deshalb. Ich meine, sind wir gierige Menschen?« Das Hupen eines Autos ertönte, von der Fensterscheibe zu einem leisen, unwirklichen Heulen verzerrt.
    »Glaub nicht«, meinte Anna. »Jedenfalls nicht gieriger als alle anderen.«
    »Sechs auf einer Skala von eins bis zehn.«
    »Was?«
    Tom schüttelte den Kopf und schwieg. Sie lagen nebeneinander auf dem Bett, lediglich vom Laken bedeckt, die Überdecke zu ihren Füßen zusammengeknüllt. Die Häuser der Stadt konnte er von hier aus nicht sehen, aber dafür das schwarzblaue Leuchten des Himmels, das langsam in Dunkelblau

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