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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sarkey
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Billigapartment eingemietet, in einem Hochhaus an der Clark Street, nur ein paar Blöcke südlich des Diversey Parkway. An den Wänden klebte die weiße Grundierfarbe, der Teppich roch nach Zigaretten, und »Ausblick« hatten sie lediglich auf das gegenüberliegende Gebäude, oder, wenn sie sich auf die Sofalehne stellten und die Nase am Fenster plattdrückten, auf einen zentimeterbreiten Streifen des Lake Michigan. Aber es war eine tolle Gegend, voller Bars, asiatischer Imbissbuden und Buchhandlungen. Direkt gegenüber gab es einen Hotdog-Laden namens Wieners Circle, in dem man regelmäßig von der Inhaberin beschimpft wurde. Wenn er an dieses Jahr dachte, musste Tom immer lächeln.
    Weshalb es sich umso merkwürdiger anfühlte, jetzt in das Viertel zurückzukehren. Zum hundertsten Mal blickte er in den Rückspiegel – keine Spur von Jack, kein Auto, das immer dann abbog, wenn sie abbogen, oder vor gelben Ampeln beschleunigte, um mit ihnen Schritt zu halten. So weit er es einschätzen konnte, wurden sie nicht verfolgt.
    Sie blieben noch einen knappen Kilometer auf der Clark Street, bevor sie in eine Straße mit Wohnhäusern einbogen, in der sie sofort einen Parkplatz erwischten. Es war ein kühler Vormittag, in der Luft lag eine Vorahnung von Regen – kein tosender Sturm, sondern ein anhaltender Regenguss. Als sie auf den Gehsteig traten, legte Tom einen Arm um Anna, und sie drückte sich an ihn, bis sich ihre Schulter in seine Armbeuge schmiegte.
    Das Restaurant war ganz anders, als er erwartet hatte. Tom war von einem schmierigen Schnellrestaurant ausgegangen, mit Tischen aus Holzimitat, über denen fettige Dunstschwaden hingen. Stattdessen fand er sich in einem luftigen, hell erleuchteten Raum wieder. An den rohen Ziegelwänden hingen bunte Leinwände, in jedem Wasserglas schwamm ein Gurkenscheibchen. Wie abgesprochen bat Tom um einen Vierertisch vorne am Fenster. Die aufgeweckte Kellnerin brachte ihnen sofort die Speisekarten und eine Kanne Kaffee und fragte, ob sie Lust auf frisch gepressten Saft hätten. Tom schüttelte den Kopf, während er schon die anderen Gäste musterte – an einem Tisch ganz hinten saß Andre. Seine Hände lagen neben einem unberührten Teller Spiegelei. Jetzt verzog er die Lippen zu einem raubtierhaften Lächeln, das seine weißen Zähne freilegte.
    »Der Kerl da hinten, das ist der Bodyguard. Der mit der Pistole.« Tom bemühte sich gar nicht erst, besonders unauffällig in Andres Richtung zu blicken – warum sollte er ihm was vorspielen? »Den Dealer sehe ich nicht.«
    Wie um seine Frage zu beantworten, klingelte das Glöckchen an der Vordertür. Der Mann wirkte kleiner und schmaler als in Toms Erinnerung – ein adretter Typ, der zu seinem teuren Anzug eine machtbewusste Ausstrahlung trug. »Mr. und Mrs. Reed«, sagte er, als er sich auf den Stuhl gegenüber setzte, die Beine übereinanderschlug und die Bügelfalte auf seinem Oberschenkel glattstrich. »Schön, dass Sie da sind.«
    Tom nickte.
    »Kommen wir zur Sache. Wann treffen Sie ihn?«
    »Um zehn.«
    »Wo?«
    »In der Century Mall.«
    Der Mann tippte sich mit einem Finger aufs Kinn. Er hielt die Augen starr auf Tom gerichtet, scheinbar ohne jemals zu blinzeln. »Warum?«
    »Weil das Einkaufszentrum ein öffentlicher Ort ist. Er meinte, so –«
    »Nein, Mr. Reed.« Der Mann beugte sich vor und betonte jede Silbe mit absoluter Klarheit. »Wa-rum?«
    »Ich verstehe nicht ganz. Warum was?«
    »Warum will sich Jack Witkowski mit Ihnen treffen? Vorgestern hatten Sie doch noch nie von ihm gehört! Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie das sogar geschworen .« Die Muskeln um seine Augen spannten sich unmerklich an. »Haben Sie mich etwa angelogen, Mr. Reed?«
    Tom spürte einen Anflug von Panik und bemühte sich, cool zu bleiben. »Wissen Sie was? Dieses ganze Getue mit ›Mr. Reed‹ geht mir langsam auf die Nerven. Ich komme mir vor wie in einem James-Bond-Film. Mein Name ist Tom, und das ist Anna. Wie sollen wir Sie nennen?«
    Der Mann legte den Kopf schief und betrachtete Tom einige Sekunden lang, bis er schließlich mit den Schultern zuckte. »Wahrscheinlich macht es wirklich keinen großen Unterschied. Malachi. Mit dem Namen kann man ohnehin nicht viel anfangen.«
    »Ich habe einfach keine Lust mehr, Sie weiter ›der Mann im Anzug‹ zu nennen.« Tom schüttelte den Kopf. »Und nein, ich habe Sie nicht angelogen.« Er nahm die linke Hand vom Schoß und legte sie auf den Tisch. Das offene Fleisch war feuerrot

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