Im Augenblick der Angst
sanften Druck ihres Körpers, den kühlen Luftzug an seinem Hals, die scharfen Zähne hinter ihren Lippen. Minuten vergingen.
»Ist das Wahnsinn?«, flüsterte sie schließlich an seiner Schulter. »Sind wir wahnsinnig?«
»Ich weiß nicht. Ja, wahrscheinlich.« Er atmete aus. »Aber es ist noch nicht zu spät. Wir können es immer noch melden.«
»Willst du das?«
»Willst du?«
»Dreihundertsiebzigtausend Dollar.« Sie sprach die Worte wie eine Beschwörung. »Dreihundertsiebzigtausend Dollar.«
»Du sagst es.«
Anna war noch nie einem leibhaftigen Detective begegnet, weshalb sie nicht gewusst hatte, was sie erwarten sollte. Bisher war sie beeindruckt: Detective Halden hatte freundliche Augen, trug einen dunklen Anzug – Männer im Anzug sah man ja kaum noch – und strahlte eine imponierende Gelassenheit aus; so als ob er schon alles gesehen hätte, was die Welt an Grausamkeiten zu bieten hat. Zusammen mit der schicken Kleidung verlieh ihm diese Ausstrahlung eine natürliche Autorität – Anna merkte, dass sie ihm vertraute, ihn sogar mochte.
Als Erstes waren zwei normale Cops erschienen, zwei Männer in blauer Uniform. Zehn Minuten, nachdem Tom aufgelegt hatte, klingelten sie schon an der Tür. Das plötzliche Geräusch ließ Annas Herz aussetzen – und als sie die Hand auf die Klinke legte, wusste sie: Die Polizisten würden sie durchschauen, und in einer Minute würden Tom und sie auf dem Boden liegen, die Hände mit Handschellen hinter den Rücken gefesselt … Aber dann stellten sich die beiden als wirklich nette Typen heraus. Anna nannten sie »Ma’am«, und nachdem sie Bill Samuelsons Leiche in Augenschein genommen hatten, plauderte der Jüngere mit ihnen in der Küche, während der andere per Funk den Detective anforderte.
Halden kam ins Haus gerauscht wie ein CEO in eine Vorstandssitzung. »Detective Christopher Halden«, sagte er, schüttelte ihnen die Hände und überreichte ihnen jeweils eine Visitenkarte mit seinen Kontaktdaten vor einer kleinen blauen Skizze der Skyline Chicagos. Dann stellte er sich in die Mitte der Küche und wippte auf den Fußballen vor und zurück, während seine Augen über die Küchentheke wanderten, über den zerstörten Herd und die verkohlte Wand. »Sieht aus, als hätten Sie einen ereignisreichen Abend hinter sich.«
Tom nickte. »Kann man wohl sagen.«
»Sind Sie beide in Ordnung?«
»Ja, nur ein bisschen angesengt.«
»Zeigen Sie mir doch mal, wo er ist.«
Halden ging voraus, Anna, Tom und die beiden Polizisten hinterher. Vor der Tür hielten sie inne, während der Detective geradewegs weiterging, auf die Leiche zu, ohne ein einziges Mal zu zögern, ohne ein einziges Mal zusammenzuzucken. Anna fragte sich, wie lange es dauerte, bis man an diesem Punkt angekommen war. Wie viele Tote hatte er schon gesehen? Und wie fühlte es sich an, nie zu wissen, ob im nächsten Zimmer nicht eine Leiche liegen würde?
Die Hände in den Taschen, die Ellbogen abgespreizt, stand Halden neben dem Bett und suchte den Raum mit demselben sorgfältigen Blick ab wie die Küche. »Wurden die Schlösser schon überprüft?«
»Warum?«, fragte Anna.
Halden blickte auf. »Ich hatte eigentlich die Kollegen gemeint, Mrs. Reed.«
»Ach so. Tut mir leid.« Sie spürte, wie sich der Schweiß in ihren Achselhöhlen und auf der Rückseite ihrer Schenkel ausbreitete.
»Keine Spuren eines gewaltsamen Einbruchs«, berichtete der ältere Cop. »Die Schlösser sind alle intakt. Die Fenster sind geöffnet –«
»Wir haben sie aufgemacht, um den Rauch zu vertreiben«, meinte Tom. »Bevor wir ihn gefunden hatten.«
» – aber die Fliegengitter sind unversehrt«, fuhr der Polizist fort.
Halden nickte, zog einen Füller aus der Innentasche seines Jacketts und durchstöberte damit die Sachen auf dem Nachttisch. »Wie gut kannten Sie Mr. Samuelson?«
Anna warf Tom einen Blick zu und zuckte die Schultern. »Im Grunde kannten wir ihn gar nicht. Er hatte eben auf die Anzeige geantwortet, vor … wann war das nochmal, sechs Monaten?«
»Wo hat er gearbeitet?«
»Ich weiß nicht. Er war ein sehr zurückgezogener Mensch.«
»Sie haben nicht danach gefragt?«
Anna schüttelte den Kopf. »Er hat immer zwei Monate im Voraus gezahlt.«
Halden hatte sich mittlerweile einen Latexhandschuh über die rechte Hand gezogen und kniete vor dem Nachttisch. Er schaltete die Lampe an und griff nach dem Medizinfläschchen. »Hat er mal eine Krankheit erwähnt?«
»Nein, aber wir haben uns auch
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