Im Bann der Wüste
seine Mutter.
Die eingefettete Ankerkette rasselte, glitt hinunter in das schwarze, ölige Wasser, und dann kam die Lumpenpfropf im Hafen von Malaz zur Ruhe, knapp hundert Schritte von den Docks entfernt. Ein paar trübgelbe Lichtflecken kennzeichneten die Hafenstraße der Unterstadt, wo alte Lagerhäuser, baufällige Schenken, Gasthäuser und Mietskasernen dem Pier gegenüberlagen. Im Norden lag die Anhöhe, auf der die Kaufleute und Adligen der Stadt wohnten – die größeren Herrenhäuser grenzten an die Klippe und die Treppen, die sich in Serpentinen zu Mocks Feste emporwanden. In der alten Festung brannten nur einige wenige Lichter, obwohl Kalam ein Banner schwer im Wind flattern sehen konnte; es war zu dunkel, um seine Farben zu erkennen.
Beim Anblick des Banners durchlief ihn der Schauer einer bösen Vorahnung. Jemand ist hier … jemand Wichtiges.
Hinter ihm war die Mannschaft an der Arbeit. Die Männer murmelten vor sich hin. Sie waren verärgert, dass sie erst so spät angekommen waren, weil sie um diese Zeit nicht mehr unverzüglich ins Hafenviertel gehen konnten, um etwas zu unternehmen. Der Hafenmeister würde bis zum morgigen Tag warten, ehe er herausgerudert käme, um das Schiff zu inspizieren und sich zu vergewissern, dass die Seeleute gesund waren – dass sie keine Infektionen oder Ähnliches einschleppen würden.
Nur wenige Minuten zuvor war der unmelodische Schlag der Mitternachtsglocke erklungen. Salk Elan hat richtig geschätzt, verdammt soll er sein. Dieser Halt in Malaz war niemals geplant gewesen. Kalam hatte ursprünglich vorgehabt, in Unta auf Fiedler zu warten, wo sie die letzten Einzelheiten ihres Plans ausarbeiten wollten. Der Schnelle Ben hatte darauf bestanden, dass der Sappeur die Verbindung benutzen sollte, die das Totenhaus ermöglichte, obwohl er sich wie üblich nur in vagen Andeutungen ergangen hatte. Kalam hatte begonnen, die Möglichkeit, die das Totenhaus bot, mehr als potenziellen Fluchtweg zu sehen, falls alles schief ging – und auch dann nur als wirklich allerletzten Ausweg. Er hatte die Azath niemals gemocht, hatte kein Vertrauen in etwas, das so gütig wirkte. Freundliche Fallen waren immer viel tödlicher als streitlustige.
Hinter ihm herrschte jetzt Stille, und der Assassine wunderte sich einen Augenblick darüber, wie schnell die Männer eingeschlafen waren, die überall auf dem Hauptdeck verstreut lagen. Die Lumpenpfropf lag still, bis auf die typischen Geräusche, die das Tauwerk und der Rumpf von sich gaben. Kalam lehnte an der Reling des Vorderdecks, den Blick auf die Stadt und auf die dunklen Umrisse der Schiffe an ihren Liegeplätzen gerichtet. Der Imperiale Pier lag zu seiner Rechten, wo die Klippe bis hinunter zum Meer reichte. Dort drüben war kein Schiff zu sehen.
Er erwog kurz, noch einmal zu dem Banner über der Feste hinaufzuschauen, doch der Aufwand erschien ihm zu groß – es war sowieso zu dunkel –, und seine Vorstellungskraft wurde ohnehin immer davon befeuert, dass er sich den ungünstigsten Fall ausmalte.
Jetzt drangen von weiter draußen in der Bucht Geräusche an sein Ohr. Ein anderes Schiff, das sich in der Dunkelheit seinen Weg suchte, eine weitere Ankunft zu später Stunde.
Der Assassine schaute auf seine Hände hinab, die auf der Reling ruhten. Sie fühlten sich an, als gehörten sie jemand anderem, die glatte, dunkelbraune Haut, die etwas helleren Narben, die hier und da zu sehen waren – als wären sie nicht seine eigenen, sondern die Opfer eines anderen Willens.
Er schüttelte das Gefühl ab.
Die Gerüche der Inselstadt trieben zu ihm heran. Der übliche Gestank eines Hafens: Abwasser und moderndes, brackiges Seewasser, vermischt mit dem stechenden Hauch von dem träge dahinfließenden Fluss, der in die Bucht mündete. Kalams Blicke konzentrierten sich erneut auf das dunkle, zahnstumpfige Grinsen der Gebäude entlang des Hafens. Ein paar Blocks weiter landeinwärts stand, wie er wusste, in einer verwahrlosten Ecke inmitten von Mietskasernen und Fischständen das Totenhaus. Von allen Bewohnern der Stadt totgeschwiegen und gemieden, und dem äußeren Anschein nach völlig verlassen, mit seinem überwucherten Hof und seinen von Weinreben umrankten schwarzen, grob behauenen Steinen. Aus den weit offen stehenden Fenstern der Zwillingstürme fiel niemals Licht.
Wenn jemand es schaffen kann, dann Fiedler. Der Bastard war schon immer was Besonderes. Sein ganzes Lehen lang Sappeur, wie’s aussieht, mit dem sechsten Sinn eines
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