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Im Bann der Wüste

Im Bann der Wüste

Titel: Im Bann der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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wäre sie seit Jahrzehnten nicht mehr gewaschen oder ausgebessert worden, nahm den Langbogen von der Schulter. Er packte die Sehne, trat auf das untere Ende des Bogens und bog ihn hart über einen Oberschenkel. Seine Glieder zitterten, als er die Öse der Sehne in die entsprechende Kerbe hakte. Dann richtete er sich wieder auf und musterte die Pfeile in dem Köcher, der an seiner Hüfte hing.
    Eine neue Woge von Zauberei traf die Krähen.
    Blinzler brauchte lange, um einen Pfeil auszuwählen. »Ich werd versuchen, ihn in die Brust zu treffen. Ist das größte Ziel, Kommandant; ein paar gute Treffer, und die arme Seele ist erledigt.«
    »Noch ein Wort, Blinzler«, flüsterte Blistig, »und ich lass dir die Zunge rausschneiden.«
    Der Soldat legte den Pfeil auf die Sehne. »Dann macht mir mal ein bisschen Platz.«
    Duiker zog Neder, die schlaff in seinen Armen hing, einen Schritt zurück.
    Der Bogen des Mannes war sogar mit eingehängter Sehne ebenso groß wie er selbst. Als er die Sehne spannte, sahen die angespannten Muskelstränge seiner Unterarme wie Hanftaue aus. Er zog die Sehne voll durch. Sie berührte seinen stoppeligen Kiefer, und er hielt sie in dieser Position, während er langsam und gleichmäßig ausatmete.
    Duiker sah, wie der Mann plötzlich erzitterte, wie seine Augen sich weiteten und so zum ersten Mal richtig zu sehen waren – schwarze, kleine Murmeln in rot geäderten Nestern.
    Furcht schwang in Blistigs Stimme mit, als er sagte: »Blinzler – «
    »Das muss Coltaine sein, Kommandant!«, keuchte der alte Mann. »Ihr wollt, dass ich Coltaine töte – «
    »Blinzler!«
    Neder hob den Kopf und streckte flehentlich eine blutige Hand aus. »Erlöse ihn. Bitte.«
    Der alte Mann musterte sie einen Augenblick. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Das Zittern hörte auf – der Bogen hatte sich die ganze Zeit nicht einen Zoll bewegt.
    »Beim Atem des Vermummten!«, zischte Duiker. Er weint. Er kann nicht zielen – der Bastard kann nicht zielen …
    Die Bogensehne surrte. Der lange Pfeilschaft durchnitt die Luft.
    »Oh, ihr Götter!«, stöhnte Blinzler. »Zu hoch – zu hoch!«
    Der Pfeil stieg, zischte durch die Krähenwolke, ohne eines der Tiere zu berühren, und begann sich zu senken.
    Duiker hätte schwören können, dass Coltaine den Blick hob, um dieses Geschenk zu begrüßen – dass er in genau dem Augenblick nach oben schaute, als die eiserne Pfeilspitze seine Stirn traf, den Knochen zerschmetterte, sich tief in sein Hirn bohrte und ihn auf der Stelle tötete.
    Sein Kopf schlug gegen den hölzernen Sparren, und dann war der Pfeil durch.
    Die Krieger auf den Hängen des Grabhügels zuckten zurück.
    Die wilden Schreie der Krähen erschütterten die Luft, dann stürzten sie herab, der zusammengesackten Gestalt an dem Kreuz entgegen, strichen über die Krieger hinweg, die die Hänge bevölkerten. Die Zauberei, die auf sie einschlug, wurde beiseite gefegt, wurde von der Kraft – Coltaines Seele? – zerschmettert, die sich jetzt erhob, um sich mit den Vögeln zu vereinen.
    Die Wolke aus Krähen sank auf Coltaine hinab, verschluckte ihn mitsamt dem Kreuz. Aus der Entfernung sahen sie für Duiker aus wie Fliegen, die über ein Stück Fleisch schwärmten.
    Und als sie wieder aufstiegen, dem Himmel entgegenjagten, war der Kriegshäuptling des Krähen-Clans fort.
    Duiker taumelte, ließ sich schwer gegen die steinerne Mauer sinken. Neder rutschte aus seinen reglosen Armes, ihr blutverschmiertes Haar fiel ihr übers Gesicht, als sie sich zu seinen Füßen zusammenkrümmte.
    »Ich habe ihn getötet«, stöhnte Blinzler. »Ich habe Coltaine getötet. Wer hat ihm das Leben genommen? Ein gebrochener alter Soldat aus der Armee der Hohefaust hat Coltaine getötet … Oh Beru, erbarme dich meiner Seele …«
    Duiker nahm den alten Mann in die Arme und hielt ihn fest. Klappernd fiel der Bogen auf die hölzernen Bodenbretter der Plattform. Der Historiker spürte, wie der Mann in seinen Armen zusammensank, als ob seine Knochen sich in Staub verwandelt hätten, als ob mit jedem zittrigen Atemzug Jahrhunderte in ihn hineinkrochen.
    Kommandant Blistig packte den Bogenschützen am Kragen und zog ihn hoch. »Noch bevor dieser Tag zu Ende geht«, zischte er, »werden zehntausend Soldaten deinen Namen rufen, du Bastard.« Seine Stimme bebte. »Wie ein Gebet werden sie ihn rufen, Blinzler, wie ein verdammtes Gebet, beim Vermummten!«
    Der Historiker schloss die Augen. Heute war ein Tag, an dem er nur gebrochene Menschen in

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