Im Bann des Falken
daher auch alles andere als erfreut, als Bethany ihr Anliegen vortrug.
“Sie wollen einen Monat Urlaub nehmen? Und schon ab morgen?” Oberschwester Vaughans mächtiger Busen hob und senkte sich, so entrüstet war sie.
Die meisten Lernschwestern hatten Angst vor ihr, weil sie Nachlässigkeit nicht duldete. Sie war nicht nur eine strenge Vorgesetzte, sondern wirkte schon durch ihre Größe und beachtliche Leibesfülle einschüchternd. Dennoch hatte Bethany die Oberin stets als gerecht kennengelernt und im Lauf der Zeit festgestellt, daß unter “der rauhen Schale des “Drachens”, wie die Mädchen sie heimlich nannten, ein weiches, mitfühlendes Herz schlug.
“Steckt ein Mann dahinter?” fragte die Oberin beunruhigt.
Bethany lächelte. Obwohl zwei der Krankenhausärzte beharrlich mit ihr zu flirten versuchten, war sie frei und ungebunden. Genaugenommen war sie noch nie richtig verliebt gewesen und hatte sich manchmal gefragt, ob sie durch ihre berufliche Beanspruchung nicht vielleicht zu selbstgenügsam geworden war. “Nein, es steckt kein Mann dahinter, Oberschwester”, sagte sie, “außer meinem Vater, der mich dringend braucht.”
Die Oberin entspannte sich. Bethany McGregor war ihre beste OP-Schwester. Dr. Hong forderte sie stets an, wenn er am offenen Herzen operierte. Sie arbeitete konzentriert, zuverlässig, beherrscht, und es wäre ein großer Verlust für das Krankenhaus, wenn sie fortginge, um zu heiraten. “Ist Ihr Vater krank?”
erkundigte die Oberin sich besorgt.
“Er könnte es sein.” Bethany seufzte und berichtete in knappen Worten, was ihr mitgeteilt worden war.
“Aber meine Liebe, Sie können doch nicht allein in so ein Land fliegen!” gab die Oberin entsetzt zu bedenken.
“Ich habe Adressen von Leuten, an die ich mich dort wenden kann. Außerdem war ich schon öfter im Ausland. Machen Sie sich um mich also keine Gedanken”, versicherte Bethany. “Ich komme bestimmt zurecht.”
“Aber der Zoll… die Sprache …”
“Ich spreche etwas Arabisch. Mein Vater hat es mir beigebracht. Und ich weiß auch, daß ich mich dort verhüllen muß. Glauben Sie mir, ganz unvorbereitet auf das, was mich erwartet, bin ich nicht.”
Die Oberin schüttelte nachdenklich den Kopf. Sie kannte Bethany McGregor gut und wußte, daß sie von ihrem Vorhaben nicht abzubringen sein würde. Sie mochte sanft und zerbrechlich wirken, aber hinter dem zarten Äußeren verbarg sich ein eiserner Wille. Und in Krisensituationen gab es unter den Schwestern keine, die es mit Bethany McGregor aufnehmen konnte.
“Ich weiß, daß eine Frau alles kann, wenn sie es wirklich will, Schwester McGregor.”
Erleichtert lächelte Bethany. Die Frau verstand sie.
Oberschwester Vaughan sah sie ernst an. “Und falls Sie drüben Gelegenheit haben sollten, ein Krankenhaus zu besichtigen, erkundigen Sie sich nach den Arbeitsbedingungen.
Es würde mich sehr interessieren, wie die Dinge dort gehandhabt werden. Die arabischen Regierungen bieten tüchtigem, medizinisch geschultem Personal viel Geld, und ich habe mich schon öfters gefragt…”
Sie verstummte, als sie Bethanys verwunderten
Gesichtsausdruck sah. “In meinem Alter, meine Liebe, legt man sich gern einen Notgroschen zurück. Aber ich würde nirgendwo hingehen, wo man meine Ansprüche nicht erfüllte.”
Die unglaublich hoch sind, dachte Bethany und versprach, die Krankenhaussituation zu überprüfen, falls sich Gelegenheit dazu bot.
Die Oberin versorgte Bethany bereitwillig mit Arzneimitteln, damit sie auf Notfälle vorbereitet war.
Knapp vierundzwanzig Stunden später saß Bethany in der Touristenklasse einer Maschine nach Singapur, der ersten Etappe ihrer Reise. Aufatmend streifte Bethany die Turnschuhe ab, kippte den Sitz so weit zurück, wie es ging, und entspannte sich. Hoffentlich gelang es ihr, etwas zu schlafen, damit sie nicht zu erschöpft in Rhafhar ankam.
Ihre blaugrau gestreifte Hose und das langärmelige Hemd aus dem gleichen Stoff waren bequem und knitterfrei.
Ausnahmsweise hatte Bethany sich das Haar nicht hochgesteckt, so daß es ihr Gesicht weich umrahmte und ihr in ungebändigten rötlichblonden Kaskaden über die Schultern fiel. Der Pony war so geschnitten, daß er die hohe Stirn bedeckte, denn Bethany fand, daß ihre Augen unnatürlich groß wirkten, wenn sie das Haar aus dem Gesicht gekämmt trug.
Sie war sich nicht sicher, ob die dichten langen Wimpern daran schuld waren, doch wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten ihre
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