Im Bann des Highlanders
morgens am liebsten etwas Herzhaftes aß anstatt Marmelade oder Honig.
Während sie frühstückte, maß Joan die Küche mit abschätzenden Blicken. Solange Marion den Raum mit ihrem Lachen erfüllte, schien er trotz des renovierungsbedürftigen Zustandes wohlige Wärme auszustrahlen – nun war er nichts weiter als eine schäbige Küche.
Es regnete noch immer, sodass Joan auf den geplanten Spaziergang durch Totton verzichtete. Ihre Mutter würde erst am späten Nachmittag heimkommen, und nachdem Joan ihr benutztes Geschirr abgewaschen hatte, besann sie sich auf den Pappkarton mit Großmutter Fionas Unterlagen, der noch immer im Gästezimmer auf dem kleinen Tisch stand.
Mit einem Glas heißer Milch in der Hand stieg Joan die Treppe hinauf und warf einen Blick auf die Tür zum Badezimmer. Sie liebäugelte mit einem heißen Bad, aber die Aussicht, dafür zunächst den altersschwachen Gasboiler in Betrieb nehmen zu müssen, veranlasste Joan, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen.
Durch die kleinen Fenster fiel trübes Licht, sodass Joan die Stehlampe neben dem Tisch anknipste, bevor sie sich erneut dem Inhalt des Kartons widmete.
Sie fand schließlich eine Buchungsbestätigung; Großmutter hatte sich ein Zimmer in einer Pension reservieren lassen, in einem Städtchen namens Baile a’Coille, was soviel wie ‚Ort am Wald’ hieß, wie Joan inzwischen aus den Reiseprospekten wusste. Dieses Städtchen lag in der Nähe jener Burgruine Glenbharr Castle, die von großer Bedeutung für Fiona gewesen sein musste.
»Was hat sie dort gewollt?« Nachdenklich kaute Joan an ihrer Unterlippe und nahm weitere Werbeprospekte, Ansichtskarten und Landkarten aus dem Karton. Immer wieder stieß Joan auf Fotos und Zeitungsartikel von Glenbharr Castle, das eine Art Touristenattraktion in der Region zu sein schien.
Zum Schluss befand sich nur noch ein in schwarzes Kunstleder eingebundenes Notizbuch auf dem Boden des Kastens. Als Joan es aufschlug, hielt sie unwillkürlich den Atem an – Fiona hatte eine Art Tagebuch angelegt, das im Jahre 1974 begann.
Sie merkte nicht, wie ihre Hände zitterten, nachdem sie den ersten Eintrag gelesen hatte und schüttelte ungläubig den Kopf. Noch einmal las sie, was Fiona im Sommer 1974 niedergeschrieben hatte.
16.7.1974
Wieder einmal habe ich schlecht geschlafen, doch meine Schlafstörungen haben einen Grund; deshalb möchte ich hier meine Aufzeichnungen festhalten, weil ich nicht weiß, was noch alles passiert.
Es geschah vor ungefähr einem Monat, als ich zum ersten Mal diesen eigenartigen Traum hatte. Ich hörte eine ferne Frauenstimme, doch sie rief mich nicht, sondern weinte und klagte. Sie drang durch dichten, kalten Nebel – mal klang sie ganz dicht an mein Ohr, dann wieder wie aus weiter Ferne. Es waren unheimliche Laute, als würde mich diese Frau anflehen.
Dieser Traum wiederholte sich in den letzten Wochen mehrmals, mit jedem Mal wurde er intensiver – fast kann ich die Person, die zu dieser Stimme gehört, fühlen. Es ist unheimlich und gleichzeitig faszinierend.
Ich kann nicht verstehen, was die Stimme mir sagt, denn die Sprache ist ungewöhnlich. Aber ich glaube, sie schon einmal gehört zu haben, ganz sicher bin ich mir jedoch nicht.
Für mich steht eines fest: Ich muss die Hintergründe erfahren, vorher gebe ich keine Ruhe ...
Hier endete Fionas erste Eintragung. Wie in Zeitlupe hob Joan den Blick und starrte an die gegenüberliegende Wand, doch sie sah nicht die verblichenen Streublümchen der Tapete, sondern ihre Großmutter, wie sie sich nachts von Albträumen geplagt von einer Bettseite zur anderen warf.
»Genau wie ich«, hauchte Joan, ihre Stimme klang eigenartig tönern. »Auch sie hatte diese entsetzlichen Träume. Aber warum nur?«
Es war kühl im Zimmer, doch das bemerkte sie kaum. Wie gebannt las sie einen Eintrag nach dem anderen, die im Grunde immer wieder dasselbe schilderten: eben das, was auch Joan hörte und spürte.
Die Abstände der Träume waren demnach auch bei Fiona immer kürzer geworden, und im November desselben Jahres schrieb sie:
18.11.1974
Ich kann nicht mehr, die Stimme in meinen Träumen wird immer eindringlicher. Ich bin überzeugt davon, dass sie mir nicht drohen will, sondern Hilfe braucht. Jetzt glaube ich auch zu wissen, dass es sich um einen gälischen Akzent handelt, mit dem die Stimme zu mir spricht. Er erinnert mich an Ian MacMurray, einem früheren Freund meines verstorbenen Mannes. Ian ist Schotte, doch leider habe ich ihn aus den
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