Im Bann Des Jaegers
glitt abwägend über sie, aber es lag auch noch etwas anderes darin. Wenn sie auch nur das Geringste getan hatte, um Kane zu schaden … Die finstere Ankündigung ließ sie erschauern. Sie konnte Bedrohungen sehr gut einschätzen, und trotz aller Fähigkeiten, die das restliche Team besaß, war Javier wahrhaft der Gefährlichste – und Unberechenbarste – von ihnen allen. Seine Beschützerinstinkte und sein Sinn für Loyalität mussten bei den Tests jeden Maßstab gesprengt haben.
»Was ist los, Paul? Stimmt etwas nicht?«, hakte Javier nach.
»Brillante Arbeit. Er wäre verblutet, aber jemand hat die Arterie geflickt; ich kann nur nicht sehen, wie.« Paul kniff die Augen zusammen, trat näher an Kane heran und kauerte sich tatsächlich hin, um durch seinen Unterleib und seinen Brustkorb nach oben zu schauen. »Da ist eindeutig eine Wunde zu erkennen. Die Arterie ist auf irgendeine Weise zusammengeschweißt worden.«
Die Drohung verschwand aus Javiers Augen, und er lächelte Rose strahlend an. »Du hast deinen Mann gerettet, stimmt’s? Was genau hast du getan?«
Paul schob Kanes Hemd aus dem Weg. »Ein sauberer Schnitt. Hier ist er reingegangen … « Er verstummte, als Javiers Worte zu ihm durchdrangen. Er blinzelte mehrfach schnell hintereinander, als kehrte er aus weiter Ferne zurück. Er erhob sich sehr langsam und sah Rose voller Ehrfurcht an. » Du hast das getan? Wie? Du musst mir sagen, was du getan hast.« Seine Stimme bebte vor Aufregung. »Du weißt, dass du ihm das Leben gerettet hast. Er wäre innerhalb von Minuten verblutet.«
Kane musste ihren Widerwillen gefühlt haben, denn er nahm ihre Hand und rieb mit seinem Daumen die Knöchel ihrer Finger. Diese kleine Geste tat ihr gut. Sie zuckte die Achseln und versuchte sich lässig zu geben. Sie glaubten, sie wüssten, wie sie sich vor Whitney schützen konnten, aber sie hatte fast ihr ganzes Leben überwacht durch Kameras und Mikrofone verbracht. Sie wusste, wie es war, gleichsam unter einem Mikroskop zu leben. Schon sehr früh war deutlich geworden, dass jedes der Mädchen, an denen Whitney experimentierte, möglichst viele ihrer Fähigkeiten vor ihm verbergen musste.
Sie hatte geglaubt, ihr böte sich die Chance, ganz langsam Vertrauen zu erlernen – gegenüber Kane und niemand anderem. Auf seine Familie war sie nicht gefasst gewesen. Sein Team war, mit Ausnahme von Paul, gemeinsam aufgewachsen, und Kane vertraute ihnen allen. Von ihr erwartete er dasselbe. Panik beschlich sie. Sie bekam kaum noch Luft.
Du schaffst das, Liebes. Du brauchst keine Fragen zu beantworten. Du bist hier zu Hause. Es werden keine Erwartungen an dich gestellt.
Seine Stimme war sanft. Sie zwang sich, den Kopf zu heben und ihm in die Augen zu sehen. Wie er sie ansah, als sei sie seine ganze Welt, das war berauschend, und sie wollte ihm vertrauen. Sie wollte, dass es mit ihnen klappte. Wenn sie sich entschied, etwas zu tun, dann ließ sie sich hundertprozentig darauf ein. Sie würde jetzt nicht kneifen.
»Rose, bitte.« Pauls Stimme bebte vor Aufregung. »Das ist das Coolste, was ich je gesehen haben, und es kommt – ganz im Ernst – näher als alles andere an das heran, was ich tun kann. Ich bin nie jemandem begegnet, der so ist wie ich.«
Sie hörte die Einsamkeit in seiner Stimme. Sie alle kämpften damit, »anders« zu sein. Und sie würden immer damit zu kämpfen haben. Sie konnte sehen, wie isoliert sich Paul gefühlt haben musste, als er aufgewachsen war. Sein Vater war groß und kräftig, ein Mann, der diszipliniert war und sich auf Gewalt verstand. Paul war genau das Gegenteil – von Natur aus zum Heiler geboren, mit enormem Einfühlungsvermögen und voller Mitgefühl für die Menschen in seiner Umgebung. Sein Vater hatte wahrscheinlich versucht, ihn zu verstehen, aber wie hätte er ihn verstehen können? Der Junge war sensibel, und der Gedanke zu töten musste ihm ein Gräuel sein.
In einiger Hinsicht war Paul sogar unter den Schattengängern immer noch isoliert. Es war nicht seine Wahl gewesen, Soldat zu werden. Er hatte viel zu viel Mitleid, um zu töten. Er war ein Heiler, ein Dichter, ein Mann, dessen Seele sich nach Sanftmut verzehrte, und doch war er von extrem gewalttätigen Männern umgeben. Sie konnte sehen, dass sowohl Kane als auch Javier das Bedürfnis hatten, ihn zu beschützen, aber sie verstanden ihn nicht.
»Wie? Du musst mir sagen, wie du das getan hast.«
Sie war zwar zu einigen ganz außerordentlichen Dingen fähig, aber sie war
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