Im Bann des roten Mondes
Mieder zu schnüren, das sie wohl oder übel anlegen musste. Désirée steckte ihr Haar selbst auf und beschloss, den Frisör später aufzusuchen. Das Frühstück nahmen sie im Speisesaal des Hotels ein. Danach verabschiedete sich Philippe, nicht ohne vorher das Schiffsticket von einem Boten besorgen zu lassen. Désirée umarmte und küsste ihn und wischte sich sogar verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Fast bekam sie so etwas wie ein schlechtes Gewissen, weil sie Philippe hinterging. Aber auch sie verspürte dieses Gefühl des Verantwortungsbewusstseins, und zwar ihrem Vater gegenüber.
Sosehr sie Philippe liebte, sie liebte ihren Vater ebenso. Im Augenblick war sie zwischen beiden Männern hin- und hergerissen. Manchmal überwog das Gefühl zu Philippe, nach dem gestrigen Streit jedoch war sie überzeugt, dass sie ihren Vater suchen müsse. Dabei störte Philippes übertriebene Sorge nur. Und dass er sie doch ein wenig als sein Eigentum ansah, konnte sie ihm nicht ganz verzeihen. Wahrscheinlich würde es nach der Hochzeit noch viel schlimmer werden. Dann würde er sich darauf berufen, dass sie ja seine Frau sei und ihm zu gehorchen habe, auch wenn er nicht darauf bestand, dass sie in aller Öffentlichkeit verschleiert ging. Waren die Männer nicht überall auf der Welt gleich?
»Versprich mir, dass du auf dich aufpasst«, mahnte sie Philippe. »Schreib mir, sobald du in Paris angekommen bist.«
Sie nickte. »Ja, Philippe, das verspreche ich dir. Mach dir keine Sorgen um mich.«
Sie küsste ihn wieder. Er lächelte. »Und wenn ich fertig bin mit diesem Bergbauprojekt, dann werden wir heiraten. Bis dahin ist auch dein Vater wohlbehalten zurückgekehrt.«
»Ja«, hauchte sie. Sie blickte zu ihm auf. Philippe war ein sehr eleganter Mann, mit dem sie sich überall sehen lassen konnte und um den sie manche Dame in Paris beneidete. Sicher war es gut, ihn zu heiraten. Eine Frau brauchte einen Mann, das war ihr nach der letzten Nacht wieder klar geworden. Diese Nächte, nein, die wollte sie nicht missen. Doch ihr war klar, dass sie jetzt wohl eine ganze Weile darauf würde verzichten müssen. Philippe hatte in seinem Bergwerk zu tun und sie ...
»Ich liebe dich, Philippe«, flüsterte sie.
Er schaute voller Zärtlichkeit auf sie herab. »Ich dich auch, Désirée. Du bist die wunderbarste Frau, die ich kenne.« Und die schwierigste, fügte er in Gedanken hinzu. Vielleicht war es gerade das, was ihn an Désirée so anzog.
»Soll ich dich zum Bahnhof begleiten?«, schlug sie ihm vor.
»Nein, bitte nicht«, wehrte er ab. »Ich hasse Abschiedsszenen.«
Der wahre Grund jedoch war, dass es ein großes Unglück gegeben hatte, als er, von Osten kommend, nach Algier gefahren war. Ein Zug war in der Kurve entgleist und den Bahndamm hinuntergestürzt. Die umgestürzte Lokomotive mit Tender und Packwagen hatte unten gelegen, darüber mehrere zertrümmerte Passagierwagen. Es hatte verletzte Passagiere gegeben, einige mussten mehrere Stunden in einem auf dem Kopf stehenden Coupé ausharren, bis es Helfern gelang, sie zu befreien. Deshalb hatte Philippe auch mit Verspätung Algier erreicht, wo er eigentlich einen wichtigen Termin bei der Bergbaubehörde hatte wahrnehmen müssen. Eine innere Ahnung hatte ihm gesagt, dass Désirée seine Warnung in den Wind geschlagen hatte. Nur zur Vorsicht hatte er im Hotel Oasis nachgefragt, der besten Adresse für französische Gäste. Sein sechster Sinn hatte ihn nicht getäuscht.
Philippe war als Ingenieur stolz auf die technischen Errungenschaften. Die Erschließung der Kolonie durch die Eisenbahn war ein Segen. Das riesige Land wurde dadurch gleich ein Stück kleiner. Die Zeitersparnis beim Reisen war nicht mit Gold aufzuwiegen. Und erst die Transportmöglichkeiten für die wertvollen Rohstoffe, die dieses Land zu bieten hatte. Eigentlich sah er seine Zukunft hier in der Kolonie. Wenn nicht Désirée wäre, der er dieses Leben nicht zumuten mochte. Sie war jung, lebenslustig und so hübsch. Sie gehörte zu Paris wie Notre-Dame und Sacré-Cœur. Paris war von jeher die Stadt der Verliebten. Und Philippe liebte Désirée.
Er vergewisserte sich an der Hotelrezeption, dass die Zugstrecke wieder frei war. Ganz sicher würde morgen in den Gazetten ausführlich von dem Unglück berichtet, aber da befand sich Désirée schon wieder auf dem Schiff in Richtung Marseille und würde davon nichts erfahren.
Désirée blickte Philippe nach, als er, ohne sich umzudrehen, die Avenue vor dem Hotel
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