Im Bann des roten Mondes
Vater hat noch nie unüberlegte Dinge getan. Deshalb vertraue ich ihm, und ich bin sicher, dass ihm nichts passiert ist. Es ist eine gewaltige Entfernung, deshalb ist er so lange verschwunden. Und sicher nimmt die Erforschung der Felsmalereien viel Zeit in Anspruch.«
Im Blick des Direktors stand nachsichtiges Bedauern über Désirées offensichtliche Naivität.
»Sicher«, erwiderte er und wich ihrem Blick aus. »Sie sollten die Schönheit dieser Stadt genießen und sich zerstreuen. Ich kann Ihnen einige Salons empfehlen. Meine Frau würde Sie gern dort einführen. Und wenn Sie in meinem Museum eine Aufgabe finden, würde ich mich sehr geehrt fühlen, eine so berühmte und ...«
»Schon gut«, unterbrach sie ihn. »Ich danke Ihnen jedenfalls für Ihre Auskünfte, es war wirklich interessant.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Mademoiselle Désirée, wenn ich etwas für Sie tun kann ... Sie sind allein hier, eine schwache, schutzlose Frau und so schön ...«
»Sie irren sich, Monsieur Latour. Ich bin zwar eine Frau, aber keineswegs schwach und schutzlos. Und Schönheit ...«, sie zögerte und betrachtete ihn von oben bis unten, »... ist relativ. Au revoir!«
Direktor Latour schaute ihr nach, während er sich mit seinem zusammengefalteten Taschentuch über die lichte Stirn wischte. Offensichtlich war die ganze Familie Montespan verrückt!
IV
Das Gewimmel der Prachtstraße nahm sie wieder gefangen, als sie die stillen, Ehrfurcht gebietenden Hallen des Museums verließ. Dieser Besuch hatte nicht den Erfolg gebracht, den sie erwartet hatte. Aber was hatte sie denn erwartet?
Jedenfalls war dieser Direktor nicht der Mann, der ihr helfen könnte und helfen würde. Zumindest nicht so, wie sie es sich vorstellte. Warum sahen die Männer in ihr nur die schutzbedürftige Frau? Schön, aber schwach, klug, aber dumm genug, sich in die Abhängigkeit eines Mannes zu begeben, berühmt, aber nur als Tochter ihres Vaters ...
Sie ballte die Hände zu Fäusten, und ihr Schritt wurde energischer. Dann musste sie eben die ganze Sache selbst in die Hand nehmen, notfalls auch ohne fremde Hilfe.
»Madame, eine Kutsche? Guter Preis!«
Désirée sprang erschrocken beiseite, als eines der abenteuerlichen Gefährte mit klapprigen Pferden dicht neben ihr hielt. Sie drohte dem Kutscher mit ihrem Sonnenschirm.
»Danke, nein«, antwortete sie ihm auf Arabisch. »Eine Frau braucht keine Hilfe. Schon gar nicht von einem fremden Mann!«
Der Kutscher blickte sie entgeistert an, als würde sie im nächsten Moment explodieren. Das war selbst ihm noch nie passiert. Diese seltsamen fremden Frauen! Er schwang seine Peitsche und trieb das Pferd an. Sicher war sicher, man konnte schließlich nicht wissen ...
Nein, Désirée brauchte keine Hilfe, nicht hier und nicht bei der Verwirklichung ihrer Pläne. Ein wenig trotzig reckte sie das Kinn nach vorn.
Der Boulevard war breit und modern. Europäische Passanten prägten das Bild, dazwischen gut gekleidete Einheimische, häufig in europäischen Anzügen. Allerdings, und das fiel Désirée ebenfalls auf, ging kaum eine europäische Frau allein. Sie befanden sich stets in männlicher Begleitung. Es nötigte ihr ein belustigtes Lächeln ab. Sie selbst hatte damit keine Probleme.
Das Hotel Oasis kam in Sicht. Désirée überlegte, ob sie noch einen Abstecher in den Basar unternehmen sollte. Das orientalische Gewimmel eines Marktes nahm sie seit je gefangen. Und es gab dort so wunderschöne Dinge zu kaufen: herrliche Tücher, Geschmeide, Ledertaschen, Gürtel, handgetriebene Messingteller und -kannen ... Und erst der Duft der Gewürze, Öle und Parfüms! Sie seufzte. Eigentlich hatte sie davon schon jede Menge zu Hause, in Paris.
Sie stutzte, als sie zwischen den Passanten eine hoch gewachsene, schlanke Gestalt in einem braunen Anzug bemerkte. Philippe!
»Philippe!« Mit ausgebreiteten Armen schwebte sie auf ihn zu, ungeachtet der missbilligenden Blicke der Männer auf der Straße. »Philippe!« Sie schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn überschwänglich. »Endlich bist du da!«
Philippe hatte sie nach einem kurzen Zögern in die Arme genommen und hielt sie nun fest, als wolle er sie nie wieder loslassen. Dann bog sie jedoch den Oberkörper etwas nach hinten und blickte ihn tadelnd an.
»Warum hast du mich nicht am Hafen abgeholt?«
Einen langen Augenblick schaute Philippe sie an, dann schob er sie sanft von sich. »Wieso bist du überhaupt hier?«, wollte er wissen. »Hast du meinen Brief
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