Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
noch liebt.
»Wie spät ist es?«
»Früh.«
»Wann bist du ins Bett gekommen?«
Da er den Unterschied ohnehin nicht bemerken würde, weil er wie ein Toter schläft und ich wochenlang verschwinden könnte, ohne dass es ihm auffiele, sage ich, gegen Mitternacht.
»Wir haben einen langen Tag vor uns«, erwidert er gähnend.
3
Was an unserem warmen Fluss in Alabama geschah, hatte für Amanda Ruth größere Bedeutung als alles, was ihr hier jemals widerfahren könnte. In Shanghai bahnte ich mir meinen Weg durch ein Gewühl von Menschen, die Männer in geknöpften Hemden und Plastiksandalen, die Frauen in hautfarbenen Söckchen, die ihre schlanken Fesseln umspielten. Ich spähte unter ihre breitkrempigen Hüte, auf der Suche nach Amanda Ruths Gesicht. Doch es gab keine, die ihr glich. Dafür hatte ihre Mutter gesorgt, mit ihrem welligen Haar, der schmalen Nase und dem Schwung ihrer gerundeten Hüften unter den engen Röcken aus weich fallendem Stoff, denen Amanda Ruths Vater bis nach Alabama gefolgt war, ans andere Ende der Welt, bevor er wusste, wie ungastlich dieser Landstrich für einen Chinesen sein konnte, der eine Callahan behext hatte.
»Eine von uns mit einem von denen«, sagten sie. Nicht hinter vorgehaltener Hand, sondern laut. Er sollte es hören.
In dieser weltoffenen, lichtvollen Stadt, deren buckelige Silhouette zu beiden Ufern des Jangtse aufragt, sah ich Männer, die mich an Mr. Lee erinnerten, den Mann, dessen verwirrte Miene an dem Tag, als er uns in dem Boots haus fand – Amanda Ruth mit gewölbtem Rücken auf dem Boden, die langen Haare über die Holzplanken schleifend, während ich ihren Bauch und ihre Beine mit Küssen bedeckte –, in blanke Wut umschlug. Mr. Lee brüllte ein einziges Mal den Namen seiner Tochter, dann kippte er den Grill um, bedeckte uns mit Asche. Der Geruch nach verbrannten Garnelen haftete an jenem Nachmittag in unseren Haaren, während wir wie betäubt auf dem Fußboden saßen, nachdem er gegangen war, unfähig zu entscheiden, ob wir gehen oder bleiben sollten, da uns beides gleichermaßen Angst machte. Es gab für diesen Augenblick kein Lächeln in seinem Katalog des Lächelns, keine Mundwinkel, die nach oben wiesen, um den Zorn über die Entdeckung zu verbergen, dass seine Tochter des Teufels war, eines Teufels, an den zu glauben seine Frau ihn gelehrt hatte.
»Wie hätte er ihr auch widerstehen können?«, sagte Amanda Ruth jedes Mal, wenn sie mir erzählte, wie sich ihre Eltern kennen gelernt hatten. »Sie war vermutlich die aufregendste Missionarin, die jemals nach San Francisco geschickt wurde, um die Sünder zu erretten.« Der Seelsorger hatte offenbar nie in Erwägung gezogen, dass sie mit einer eigenen Sünde zurückkehren könnte, dem Mann, den sie stets als »John Lee, amerikanischer Staatsbürger« vorstellte, obwohl sie ihm insgeheim andere Namen gaben: Chinamann, Schlitzauge, Chink. Für seine Frau hatte er jeden Funken Ehre aufgegeben, es war nichts mehr übrig, um es für seine Tochter zu opfern.
Was hätte Amanda Ruth aufgegeben? Nichts, oder alles, je nach Tageszeit. Sie war so unbeständig wie alle ame rikanischen Mädchen in den achtziger Jahren mit ihrem aufgeblähten Reagan-Ära-Ego, dem Versprechen vom ewi gen Reichtum. Pizza Hut, Esprit, Madonna – diese Sprache war im gleichen Maß ihre wie meine. Sie brachte mir die einzigen Worte in Mandarin bei, die sie kannte, Danke und Hallo, obwohl sie aus ihrem Mund nicht minder hohl und geborgt klangen als aus meinem. »Shay-shay«, bedankten wir uns jedes Mal, wenn uns die Kassiererin im K&B , wo wir kleine, mit chinesischen Landschaften bemalte Teetassen und billige Emailleohrringe in bunten Cloisonné-Farben kauften, das Wechselgeld herausgab. Wenn wir uns an Amanda Ruths Spind in der Schule trafen, Spind Nummer acht (eine Glückszahl, wie sie meinte), begrüßten wir uns mit »Ni hao!«. Sie sagte es laut, spöttisch, als wollte sie den kleinen, jedoch feinen Unterschied im Schnitt ihrer Augen wieder gutmachen.
Ich höre den Fluss, der unter mir tost, und denke an das Paar, das wir damals waren, vor dem schrecklichen Augen blick der Entdeckung. Vor Dave und allen jungen Männern, die vor ihm kamen. Bevor Amanda Ruth, das Gesicht eine verschmierte Collage aus Tintenklecksen, zum ersten geheimnisumwitterten Mordfall in unserer Stadt wurde, der wochenlang für Schlagzeilen sorgte.
Wie konnte ich die Vormittage unter dem Landungssteg vergessen – ihre Haut, die silbern schimmerte wie der Bauch
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