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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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ich mich um und sehe einen Mann wenige Schritte entfernt sitzen. Er ist hoch gewachsen, schlank und grauhaarig, mit einem anziehenden Gesicht und buschigen Augenbrauen. Er sieht wie Anfang fünfzig aus, könnte allerdings auch einige Jahre älter oder jünger sein. Er trägt ein weiß gestreiftes Baumwollhemd, mit Ärmeln, die bis zum Ellenbogen hochgekrempelt sind, eine locker fallende Leinenhose und braune Sandalen. Seine Zehen sind nach innen gebogen, ein seltsamer Kontrast zur schlanken, symmetrischen Silhouette seines Körpers. Er hält ein Glas Weißwein in jeder Hand.
    »Für Sie«, sagt er.
    Ich nehme das Glas entgegen, halte es am Stiel. »Danke. Vermutlich haben Sie vor, mich betrunken zu machen und mich dann über Bord zu werfen, in den längsten Fluss der Welt.«
    »Den drittlängsten, wenn ich Sie berichtigen darf.« Er hat einen australischen Akzent. »Nach dem Kongo und dem Nil. Doch keine Bange, das wäre mir zu riskant. Man würde morgen das ganze Schiff auf den Kopf stellen, sobald Ihr Mann Sie als vermisst gemeldet hat.« Er spricht langsam, als fiele es ihm schwer, die Worte zu formulieren, doch in seinen Augen ist nichts vom umnebelten Verstand eines Betrunkenen zu erkennen.
    »Australien?«
    »Perth.«
    »Vielleicht würden sie denken, ich sei freiwillig über Bord gegangen. So etwas wäre bestimmt nicht zum ersten Mal passiert.« Ich koste den Wein, der mir zu süß ist. Innerhalb von Sekunden verspüre ich einen angenehmen Schwindel. »Was macht Sie so sicher, dass ich verheiratet bin?«
    »Ich habe Sie heute Nachmittag in Shanghai mit ihm gesehen. Sie haben einen Schal gekauft, bevor Sie an Bord gingen. Er war dunkelgrün. Die Frau, die ihn verkauft hat, meinte, er passe gut zu Ihren Augen.«
    »Sie sprechen Mandarin?«
    »Ich bemühe mich.« Er lacht. »Doch ich würde mich nicht auf meine Übersetzung verlassen.« Er sucht den Fluss mit den Augen ab. Ich betrachte sein Gesicht im Profil – die lange Linie des Kiefers, die muskulösen Sehnen am Hals, das winzige Muttermal hoch oben am Wangenknochen. Plötzlich dreht er sich um und erwidert meinen Blick auf eine Weise, wie Männer es tun, wenn sie merken, dass man sie anstarrt.
    Ich wende den Blick ab, räuspere mich. »Sind Sie geschäftlich hier?«
    »Privat. Gewissermaßen.«
    »Reisen Sie alleine?«
    »Wer möchte das wissen?«
    »Ich bestimmt nicht, ich bin schließlich verheiratet.« Er sieht mich versonnen an, die Augen auf eine Stelle unweit meines Mundes gerichtet. Ich kann mich nicht entsinnen, wann ich das letzte Mal geflirtet habe. Ein gutes Gefühl.
    »Ja«, antwortet er. »Ich bin alleine unterwegs.« Er hebt sein Glas und deutet in meine Richtung. »Auf Sie, Jenny, und Ihre erste Chinareise.«
    Ich zögere. »Ich habe Ihnen nicht gesagt, wie ich heiße.«
    »Tut mir Leid. Ich hörte heute Nachmittag, wie Ihr Mann Sie rief. Er versuchte Sie einzuholen. Sie waren auf dem Markt in der Huaihai Road, erinnern Sie sich? Er schrie mehrmals Ihren Namen und schließlich blieben Sie stehen und warteten auf ihn.«
    »Haben Sie uns nachspioniert?«
    »Das klingt so finster aus Ihrem Mund. Ich habe lediglich Beobachtungen angestellt. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich werde Ihnen etwas über mich erzählen, dann sind wir quitt. Mein Name ist Graham. Ich bin dreiundfünfzig Jahre alt. Ich habe keine Kinder, keine Ehefrau, keine Geschwister, überhaupt keine Familie, die der Erwähnung wert wäre. Ich war zwanzig Jahre lang in der Baubranche tätig, Sicherheitssysteme für Baukräne, genauer gesagt. Ich esse weder Karotten noch Kürbis, dafür liebe ich Süßigkeiten aller Art, insbesondere den Zitronenkuchen von Key. Ich bin lausig beim Pokern, spiele jedoch gut Backgammon.« Er trinkt einen kräftigen Schluck Wein. »So, nun wissen Sie mehr über mich als ich über Sie, was bedeutet, dass Sie in unserer Beziehung eine Macht position entwickelt haben.«
    Ich kann nicht anders, ich muss über Grahams atemlosen Monolog lachen. »Eins zu null für Sie.«
    »Was haben Sie da?« Sein Blick ruht auf der Blechdose.
    Ich greife zu einer Lüge. »Nichts weiter, nur ein paar Postkarten.«
    »Sie werden noch genug Zeit zum Schreiben haben. Laut Wettervorhersage wird es regnen. Natürlich übertreibt die Nachrichtenagentur Xinhua schamlos bei ihren Meldungen von Überschwemmungen, um die Werbetrommel für diesen grässlichen Staudamm zu rühren.«
    Durch das Schiff geht ein Ruck, es neigt sich nach steuer bord. Instinktiv strecke ich die Hand aus und

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