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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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nun den Fluss und die kleinen Sampans betrachte, gesteuert von Männern, deren Sprache ich nicht verstehe, und die Berge, die so hoch aufragen, dass ich ihre Gipfel nicht erkennen kann, weiß ich, dass die Heimkehr kein Zuckerschlecken sein wird. Ich habe genug Bargeld bei mir, jedoch keinen Reiseführer oder Reiseleiter. Ich habe keine Ahnung von den hiesigen Sitten und Gebräuchen, habe keine Möglichkeit, mich durchzufragen, da ich der Sprache nicht mächtig bin. Und schließlich begreife ich, was Graham meinte: Unterwegs zu sein, weit weg von zu Hause, in der Ferne, in der Fremde, ganz auf sich selbst gestellt und alleine, heißt auch, frei zu sein.
    Ich steige in den Sampan und deute flussaufwärts. »Chongqing«, sagt der Mann. Ich nicke. Er zeigt auf ein Sitzbrett in der Mitte des Bootes, eine Handbreit vom Boden entfernt. Ich nehme Platz. Er taucht seine Bambus stange in den Fluss und wir legen ab. Die Sonne lugt hinter einer dunklen Wolkensäule hervor. Der Fluss gleicht einer weiten grünen Fläche, verlockend und harmlos. Die Berge ragen hoch über uns auf, schroffe Klippen in Smaragdgrün und Grau. Ein Aufblitzen, eine silberne Silhouette, die vor dem Sampan entlangschwimmt. Und dann richtet sie sich zu voller Größe auf, tritt auf der Stelle, die Nase gen Himmel gereckt, der Bauch im Sonnenlicht schimmernd. Verblüfft drehe ich mich zu meinem Steuermann um, möchte wissen, ob er das Gleiche gesehen hat wie ich. » Baiji«, flüstert er, von Ehrfurcht ergriffen. Der Delphin taucht wieder ins Wasser ein, entschwindet unseren Blicken, flussabwärts.
    Einige Minuten steht der Mann reglos da, die Bambusstange in der Hand. Er hat den Motor nicht angeworfen, lässt unseren Sampan mit der Strömung treiben. Er sucht den Fluss mit den Augen ab und wartet. Zu unserer Rechten die verlassene Stadt. Zu unserer Linken die neue Ansiedlung, die weißen Fassaden der Plattenbauten glänzen. Unruhige Wellen plätschern gegen den hölzernen Rumpf des Bootes.
    Ich erinnere mich an einen Nachmittag mit Amanda Ruth in unserem Raum. Wir lagen auf Handtüchern im Heck des Bootes, das ihrem Vater gehörte. Das Boot schaukelte heftig auf und ab, den Bewegungen des Demopolis River unter uns folgend. Das Wasser zauberte Licht reflexe an die Decke, die sich drehten und wendeten. Amanda Ruth lag ausgestreckt da und schlief, die dunkle Mähne über dem pastellfarbenen Muster ihres Handtuchs ausgebreitet. Ihr Arm war gebräunt und nackt von der Schulter bis zur Fingerspitze, der Flaum golden, von der Sonne ausgebleicht. Sie hatte ein Muttermal von der Größe eines Vierteldollar unterhalb des Ellenbogens. Die Glätte ihres Armes, der schwache, süße Duft ihrer Haut, der in der Hitze des Nachmittags aufstieg, ein Sandkorn auf ihrer Wimper, eine Kiefernnadel, die sich in ihrem Haar verfangen hatte. Das Boot hob und senkte sich, hob und senkte sich. Sie gab einen Laut von sich, so sacht, dass ich ihn beinahe überhörte, nicht mehr als ein Seufzer, ein Atemhauch.
    Fünfzehn Minuten später rührt sich der Mann immer noch nicht vom Fleck und sucht weiterhin die Umgebung mit den Augen ab. Er kniet im Boot und späht über die Kante, seine Augen nur eine Handbreit von der Wasseroberfläche entfernt, als sei er in der Lage, die schlammige Brühe mit seinen Blicken zu durchdringen. In der Zwischenzeit treiben wir dahin. Der Sampan schaukelt und dreht sich im Kreise. Sein Gesicht ist angespannt, erregt. Er wartet auf die Rückkehr des baiji, als wäre er fest überzeugt, dass solche Wunder geschehen können. Mir geht der Gedanke durch den Kopf, dass dieser Mann eine unendliche Geduld besitzen muss. Vielleicht werden wir eine Stunde warten – oder länger. Ich stelle mir vor, wie meine Lider schwer werden und meine Glieder erlahmen, während er unermüdlich im Bug des Bootes kniet und wartet.
    Ich stelle mir vor, wie wir uns durch die Nacht treiben lassen, in den Morgen hinein, in den nächsten Tag und den übernächsten, weiter und weiter durch die Monate und Jahreszeiten, bis der Fluss zu steigen beginnt. Ich stelle mir vor, wie der Fluss anschwillt, wenn sich die gigantischen Mauern des Damms schließen. Der Fluss steigt, überflutet die Kais und braust durch die Fenster der Hütten, die das Ufer säumen. Er strömt durch die menschenleeren Straßen, reißt Töpfe und Pfannen, Fahrräder und Betten, Teetassen und Leinen, Schaufeln und Türen mit sich. Der Jangtse bahnt sich seinen Weg durch die Eingangshalle des Hotel Tien, vorbei an den

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