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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Zeit, glaubten die Chinesen, dass sich die Dämonen mit einer unsichtbaren Schnur an die Boote binden. Sie sind deshalb so nahe vor dem Bug unseres Schiffes im Zickzack gefahren, um die Schnur zu durchtrennen. Jetzt haben sich die Dämonen an unser Schiff geheftet, wie ihr Aberglaube besagt.«
    »Das heißt, wir haben jetzt eine ganze Schar von Dämonen im Schlepptau?«
    »So ist es.«
    Ich habe kein Bedürfnis, das Gespräch zu beenden oder es auf die nächste Ebene zu lenken. Dann und wann schlägt Graham nach einer Mücke oder ich bewege mich in meinem Liegestuhl, um eine bequemere Stellung zu finden. Die ganze Nacht lang döse ich in regelmäßigen Abständen, schlafe jedoch nie richtig ein. Immer wenn ich meine Augen öffne und nicht gleich weiß, wo ich bin, höre ich Grahams Stimme, die mich mit einem behutsamen Anstoß den Fängen des Schlafes entreißt und mir berichtet, wie spät es ist: »Zwei Uhr fünfzehn«, sagt er. »Nach menschlichem Ermessen sollten wir nun ungefähr siebzig Kilometer von Yangzhou entfernt sein.« Und dann, für den Fall, dass ich es vergessen haben sollte: »Ich bin’s, Graham. Wir befinden uns auf dem Jangtse. Ihr Mann ist unter Deck und schläft. Sie sind dem Charme eines fremden Mannes verfallen.«
    Um drei Uhr dreißig schrecke ich hoch und merke, dass mein Kopf auf seiner Schulter ruht. Er hat seinen Liegestuhl so dicht an meinen herangezogen, dass sich die Metallrahmen berühren. Sein Arm liegt auf der gemeinsamen Armlehne, seine Hand baumelt zwei Finger breit neben meinem Bein herab. Mein Sarong ist über dem Knie verrutscht, der Oberschenkel entblößt; wenn ich mein Bein auch nur einen Bruchteil anheben würde, würde sich unsere Haut berühren.
    »Sind Sie wach?«
    »Ja.« Er lässt seine Hand fallen und eine Sekunde lang streifen seine Finger meinen Schenkel, jagen mir eine Gänsehaut über das Bein. Es ist Monate her, seit Dave mich auch nur andeutungsweise mit einem sexuellen Hintergedanken berührt hat. Ich sorge dafür, dass meine Finger Grahams streifen, nur kurz. Ich rede mir ein, dass es nichts zu bedeuten hat, dass die Berührung versehentlich erfolgt ist, doch ich habe das untrügliche Gefühl, soeben eine unsichtbare Grenze überschritten zu haben.
    Ich denke an Dave und die Frau, die er vor zwei Jahren aus einem brennenden Autowrack an der Palisades Küstenstraße gerettet hat. Ich denke an ihre monatlichen Treffen in einem Café in Chelsea und wie Dave sein Erscheinungsbild ein letztes Mal im Spiegel überprüft, bevor er losfährt. Dave macht kein Geheimnis aus diesen Treffen. Er hat immer geschworen, dass sie völlig harmlos sind, dass er sich lediglich verpflichtet fühlt, für eine einsame und dankbare Frau da zu sein. Ich stelle mir die beiden vor, wenn sie zusammen sind, ihre Knie berühren sich unter einem kleinen runden Tisch. Ich male mir aus, wie sie mit ihrem verbrannten, vom Unfall vernarbten und glänzenden Gesicht dasitzt, an einem Glas eisgekühlter Limonade nippt und jede seiner Bewegungen mit den Augen verfolgt. Obwohl er nie ein Wort darüber verloren hat, glaube ich, dass sie ihn hoffnungslos liebt. Wenn sie meinen Mann betrachtet, sieht sie in ihm den Menschen, der ihr das Leben gerettet hat, der sie jeden Monat aufs Neue errettet, wenn er mit dem C-Zug nach Chelsea fährt, um sich mit ihr zu treffen. Ich weiß, dass sie früher einmal schön war, vor dem Unfall, weil Dave mir ein Bild von ihr gezeigt hat, ein Geschenk von ihr. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, wie oft die Hand dieser Frau Daves Schen kel gestreift hat, auf die gleiche intime Art wie Grahams gerade den meinen, und wie oft Dave sich vorgestellt hat, wie es wohl wäre, mehr mit dieser Frau anzufangen, sie zu küssen oder sogar mit ihr ins Bett zu gehen. Doch selbst wenn er daran gedacht, es sich ausgemalt, sich danach gesehnt haben sollte, weiß ich, dass er es nicht getan hat.
    »Es sind keine Postkarten«, sage ich, plötzlich ein Bedürfnis nach Nähe verspürend, und die Bereitschaft, mich ihm zu offenbaren.
    »Pardon?«
    »In der Blechdose. Sie enthält keine Postkarten.«
    »Das dachte ich mir schon. Sie haben das Ding umklammert, als wäre es mit Diamanten gefüllt.«
    »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Wir haben zwei Wochen Zeit.«
    Und so beginne ich, ihm von Amanda Ruth zu erzählen. Ich erzähle ihm von der Asche, wie ihre Mutter wenige Tage nach der Trauerfeier mit der Blechdose zu mir kam und sagte: »Amanda Ruth wollte immer nach China. Du bist der

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