Im Blut vereint
uns. Vielleicht dürfen wir ja wiederkommen und uns die Treppe genauer ansehen.«
Kate nickte ein wenig benommen. In ihrem Haus gab es einen Geheimgang! Die alten Damen waren außer sich vor Freude. Kate dagegen wurde bei der Vorstellung immer unbehaglicher. Der Wäscheschrank befand sich direkt vor ihrem Schlafzimmer. Sie sah plötzlich deutlich vor sich, wie irgendetwas – eine Ratte zum Beispiel – mitten in der Nacht die Treppe heraufkam. Und sich in ihr Schlafzimmer stahl.
»Komm jetzt, Mil.« Enid wandte sich zum Gehen. »Wir dürfen Ms Keane nicht länger warten lassen.«
Muriel erhob sich widerwillig und warf noch einen letzten Blick durch den Türspalt. Kate räumte mit dem Fuß einen Weg durch die verstreuten Reinigungsutensilien frei.
»Es tut mir so leid, meine Liebe.« Enid schaute ein wenig betroffen auf das Durcheinander. Sie hob ein Küchentuch vom Boden auf und faltete es zu einem Rechteck, so exakt, wie Kate es auch in der doppelten Zeit nicht geschafft hätte.
»Ich räume auf, wenn ich wieder nach Hause komme«, sagte Kate. Sie nahm das Küchentuch entgegen, legte es auf den Küchentisch und schenkte Enid ein aufmunterndes Lächeln. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.« In gewisser Weise war sie froh, dass Muriel den Geheimgang gefunden hatte. Nun wusste sie wenigstens, dass es ihn gab. Sobald Muriel und Enid ihn erkundet hatten, würde sie ihn zunageln. Diesmal richtig.
Der Verkehr in Richtung Stadtzentrum war nicht so schlimm wie befürchtet – die meisten Leute fuhren in die Gegenrichtung. Gegen 17:40 Uhr kamen sie bei
Keane’s Funeral Home
an. Kate stieg zuerst aus und hielt Enid und Muriel die Autotür auf. Dann folgte sie den Schwestern zu dem mit Säulen geschmückten Gebäude. Enid ging voran, und ihrer Körperhaltung merkte man bereits die Entrüstung an. Kate musste sich zwingen, mit ihr Schritt zu halten. Sie hatte geglaubt, mit ihrem letzten Besuch wäre sie ihre alten Ängste losgeworden, doch jetzt meldeten sie sich erneut.
Anna Keane empfing sie an der Tür. Sie trug eine leichte Seidenbluse und einen blassrosa Rock, der nach diesem langen, warmen Arbeitstag zerknittert war. Vermutlich war sie nur ihretwegen noch hier. Sie waren für heute ihre letzten Kunden. Danach würde sie heimfahren und den wunderbaren Maiabend genießen. Hoffentlich gab Enid ihr eine Chance, alles zu erklären.
»Miss Richardson«, sagte Anna Keane mit warmer Stimme, aber dabei glitt ihr Blick von Enid zu Kate. In ihren Augen blitzte Überraschung auf und noch etwas anderes. Sie gab Enid die Hand und führte sie alle ins Haus und zu ihrem Büro. »Am Telefon haben Sie gesagt, dass Sie es sich anders überlegt haben?«
»Ja, wir müssen ein paar Dinge klären«, sagte Enid knapp. »Ich habe meine Anwältin mitgebracht.«
Anna Keane sah Kate überrascht an. »Ms Lange ist Ihre Anwältin?«
»Sie kennen sich?«, fragte Enid.
»Ich hatte in einer anderen Sache geschäftlich mit Ms Keane zu tun«, sagte Kate. Sie sprach bewusst locker und freundlich, damit nicht gleich zu Beginn eine ungute Stimmung entstand.
Sie betraten Anna Keanes Büro. Diesmal stand auf dem Besprechungstisch ein Arrangement von blassgelben Narzissen. Die Blüten waren in der warmen, stickigen Luft im Raum schlaff geworden.
»Bitte setzen Sie sich«, sagte Anna Keane. »Kann ich Ihnen einen Tee oder einen Kaffee anbieten?« Offenbar war das der übliche Ablauf, mit dem sie zu erreichen versuchte, dass ihre »Gäste« sich wohlfühlten.
»Nein, danke.« Enid nahm mehrere Bögen Papier aus ihrer Handtasche. »Ms Keane, ich möchte meinen Vertrag mit Ihnen kündigen und mein Geld komplett zurückerstattet bekommen.«
Kate versuchte, in Anna Keanes Gesicht zu lesen. Dort zeigte sich keine besondere Regung. Wahrscheinlich war sie an verärgerte Kunden gewöhnt. Der Tod brachte viele Menschen aus der Ruhe.
»Ich bedauere, dass Sie es sich anders überlegt haben« Sie blickte Enid prüfend an. »Darf ich fragen weshalb?«
Kate hielt den Atem an. Enid schien auf dem besten Weg, sich in einen Wutanfall hineinzusteigern. Unter dem sorgfältig aufgetragenen Puder in ihrem Gesicht zeigten sich rote Flecken. »Weil Sie mich dazu bringen wollten, Ihnen mit meiner Unterschrift meine Schwester zu überlassen!«
Muriel blinzelte überrascht. »Mich? Sie kriegt mich?« Sie schlang die Arme um sich. »Nein, nein. Das geht nicht!«
Enid legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. »Nein, Mil, schon in Ordnung. Das habe ich nicht
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