Im Blut vereint
dass Frühling war. Kate wusste genau, dass diese Tage trügerisch waren und die Sonne im Handumdrehen wieder hinter Nebel verschwinden konnte. Aber im Augenblick wärmte sie ihr den Nacken. »Enid, Muriel! Hallo!«
Sie lief die Stufen zur Veranda hinauf, wo die beiden Damen schon warteten. Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie locker die Umgangsformen in ihrer Generation geworden waren. Zu Enids Zeit war man noch pünktlich, und man entschuldigte sich ganz bestimmt nicht mit Sätzen wie »Meine Mailbox war knallvoll«.
Enid gab ihr die Hand. »Hallo, meine Liebe.«
Kate lächelte erleichtert, denn Enid wirkte nicht verärgert. »Tut mir leid, dass ich zu spät komme.«
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn über den schwergängigen Punkt hinweg, bis das Schloss aufsprang. Die schwere Tür ächzte beim Öffnen. Kate machte sich schon auf Alaskas Begrüßung gefasst. Aber der Flur war leer. Unheimlich leer.
»Alaska?« Sie lief in die Küche.
Keine Spur von ihrem Hund.
»Alaska?« Kate eilte durch das Wohnzimmer.
Auf dem Teppich lagen zwar jede Menge Hundehaare, aber Alaska selbst war nirgendwo zu sehen.
Dann fiel es ihr ein. Um diese Zeit führte Finn ihn aus. Erleichtert atmete sie auf. Oh Mann, sie war wirklich noch gestresster, als sie gedacht hatte. Dieser Tag hatte sie sehr mitgenommen.
»Ist alles in Ordnung, Kate?«, rief Enid von der Veranda her.
Kate kehrte zur Haustür zurück. Jetzt, da die Aufregung verebbt war, fühlte sie sich schwach. Sie wischte die schweißnassen Hände am Rock ab. »Alles in Ordnung. Ich hatte ganz vergessen, dass Alaska mit dem Hundeausführer unterwegs ist.« Sie öffnete die Fliegengittertür. »Bitte, kommen Sie doch herein. Ich muss nur rasch etwas holen, dann können wir losfahren.« Oben in ihrem Arbeitszimmer hatte sie ein Buch, von dem sie glaubte, dass es Anna Keane nutzen konnte. Es war ein Führer zu Grundbegriffen der Rechtskunde, herausgegeben von der Gesellschaft für juristische Bildung. Er könnte Anna Keane als Richtschnur beim Thema Vollmachten dienen.
Enid und Muriel betraten den Flur. Kate eilte ins Obergeschoss. Sie wünschte, es wäre schon Zeit zum Abendessen. Sie sehnte sich nach einem Glas Wein. Und danach, jemandem ihre Sorgen anzuvertrauen. Vor sechs Monaten hätte sie mit Ethan darüber reden können. Aber jetzt gab es niemanden mehr, dem sie von dem Gespräch mit John Lyons erzählen konnte, davon, wie sehr es ihren Stolz verletzt hatte.
Wie hatte es so weit kommen können, dass sie keine Freunde mehr hatte? Arbeit allein machte nicht glücklich. Das war zwar ein Klischee, aber wie die meisten Klischees enthielt auch dieses ein Körnchen Wahrheit. Ihre Freundschaften aus Studienzeiten waren allesamt eingeschlafen, weil sie immer zu beschäftigt gewesen war – erst mit dem Referendariat, dann mit Ethan, und nun mit der Arbeit bei LMB . Anfangs hatte sie gehofft, unter den Kollegen dort neue Freunde zu finden. Aber dazu war sie zu sehr Außenseiterin; ihre Kollegen sahen sie als Bedrohung. Seltsamerweise war der Einzige, der ihr wenigstens etwas Wärme entgegengebracht hatte, ausgerechnet Randall Barrett. Und inzwischen wusste sie, dass diese Wärme so trügerisch gewesen war wie die Frühlingssonne. Sie hatte sich ganz schnell hinter einen Nebel kalter Berechnung verzogen.
Im Schlafzimmer schaute sie in den Spiegel. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Haare zerzaust. Rasch zog sie eine frische Bluse an, glättete ihr Haar und eilte wieder nach unten.
Die beiden Schwestern waren nicht mehr im Flur. Kate blickte sich verwirrt um. Da hörte sie Stimmen aus der Küche.
»Mil, bitte komm da raus.«
»Nein! Ich habe zu tun.«
Kate betrat die Küche und blieb verblüfft stehen. Muriel kniete in der Vorratskammer vor dem alten Verschlag und zog eben eine Kehrschaufel heraus. Sie warf sie achtlos hinter sich. Um sie herum lagen kreuz und quer ein Mopp, ein Eimer, mehrere noch unbenutzte Scheuerbürsten und drei Flaschen Reinigungsmittel.
Kate betete, dass Muriel kein totes Nagetier gefunden hatte. Das wäre das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Obwohl es nicht die erste Ratte wäre, die ihr heute begegnete.
Ein Besen landete auf dem Boden. Muriel beugte sich noch weiter vor. Eine leere Farbdose rollte in die Küche.
Enid blickte Kate entschuldigend an. »Es tut mir so leid. Ich war im Bad, und als ich zurückkam, war Muriel schon in Ihrer Vorratskammer.«
»Was macht sie denn da?« Bestürzt betrachtete Kate das
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