Im Blut vereint
Hände. Sie ballte sie langsam zu Fäusten, öffnete sie dann wieder und streckte sie auf der Schreibtischplatte aus. Zugleich holte sie tief Luft. In fünf Minuten musste sie im Gerichtssaal erscheinen. Also musste sie sich beruhigen. Das war allerdings leichter gesagt als getan. Die Anspielungen der Schulleiterin waren eine Unverschämtheit gewesen.
»Haben Sie heute früh die Nachrichten gehört?«, hatte Ms MacInnes gefragt.
Ja, das hatte sie. Ein Mord im Süden der Stadt. Bis die Angehörigen informiert waren, gab die Polizei keine Einzelheiten bekannt, aber angeblich war das Opfer eine Prostituierte.
Zuerst begriff Hope nicht, weshalb Ms MacInnes die Sache erwähnte. Dann wurde es ihr schlagartig klar. Und sie war außer sich. Was für eine unglaubliche Frechheit. Für wen hielt sich diese Direktorin eigentlich?
Hopes Tonfall wurde eisig. »Was genau hat diese Frage mit den Fehlzeiten meiner Tochter zu tun?«
Ms MacInnes zögerte, und Hope fühlte einen Anflug von Befriedigung, doch die nächsten Worte der Direktorin machten das zunichte. »Sie hat sehr viel damit zu tun. Falls Lisa wieder Drogen nimmt.«
»Sie nimmt keine Drogen. Dafür gibt es keinerlei Anzeichen.«
»Außer dass sie die Schule schwänzt«, sagte Ms MacInnes leise. »Was macht Lisa in der Zeit?«
Hope sog scharf die Luft ein. »Ihre Großmutter hat ein Auge auf sie.«
»Ich verstehe.« Die Direktorin versuchte gar nicht, ihre Skepsis zu überspielen. »Es geht nicht an, dass Lisa ständig den Unterricht versäumt, Euer Ehren. Ihre schulischen Leistungen müssen unseren Anforderungen genügen.«
»Darum werde ich mich persönlich kümmern«, hatte Hope steif erwidert. »Lisa wird morgen zum Unterricht erscheinen.«
»Gut. Vielleicht können wir einen Termin vereinbaren, um persönlich darüber zu sprechen?«
»Meine Assistentin wird Sie anrufen.« Hope hatte aufgelegt.
Der nächste Anruf fiel ihr nicht leicht, aber sie hatte keine andere Wahl.
Das Telefon klingelte. Es zerriss die Stille. Marian zuckte zusammen. Sie war ganz in Gedanken versunken gewesen. Nur wenige Minuten bevor sie vom Ferienhaus heimgekommen war, hatte Kate Lange ihr eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Und am Tag davor ebenfalls. Darin bat sie um Rückruf, aber Marian war der Bitte noch nicht gefolgt. Zuerst wollte sie mit Margaret reden.
Das Telefon klingelte erneut. Hartnäckig. Ob das Kate Lange war? Marian zögerte, die Hand schon über dem Hörer. Sie fühlte sich dem Gespräch noch nicht gewachsen.
Das Telefon klingelte zum dritten Mal. Marian wurde wankend. Vielleicht war es Margaret. Sie sollte doch abheben.
»Marian.«
Als sie die forsche Stimme am anderen Ende der Leitung hörte, sank ihre Stimmung. »Ja.« Weshalb rief Hope an? Hatte ihre Exschwiegertochter etwa erfahren, dass Marian wegen Lisa beim Rechtsanwalt gewesen war?
»Ich habe nicht viel Zeit …« –
Die hast du nie, wenn es um die Familie geht
– »… Die Verhandlung beginnt gleich, aber ich wollte mich vergewissern, dass Lisa bei dir ist.«
Vor Schreck lief es Marian kalt den Rücken hinunter. »Ich habe sie seit einer Woche nicht mehr gesehen.«
»Lisa hat gestern gesagt, sie würde bei dir zu Abend essen. Ich hatte angenommen, dass sie auch bei dir übernachtet hat.«
Wie günstig.
»Nein, ich war im Ferienhaus.«
»Hat Lisa das gewusst?«
»Ja.«
Warum hast du schon wieder gelogen, Lisa?
Im Stillen trauerte Marian dem Kind von früher nach, das nichts zu verbergen hatte. »Dann ist sie gestern Nacht nicht nach Hause gekommen?«
»Nein.«
Marians Herz begann zu hämmern. Sie versuchte sich zu beruhigen. »Was meinst du, wo sie steckt?«
»Ich weiß es nicht. Vor fünf Minuten hat die Schule angerufen, weil Lisa fehlt.« Hopes Stimme klang bemerkenswert kühl. Aber vielleicht war das gar nicht so bemerkenswert. »Aber sie ist auch früher schon allein losgezogen, wie wir beide wissen. Bestimmt ist sie bei einer Freundin.«
An Hopes Ende der Leitung hörte man eine gedämpfte Stimme: Jemand hatte ihr Büro betreten. Hope sprach im Schnelltempo weiter: »Hör zu, ich muss los. Ruf bitte ihre Freunde an. Ich werde die Verhandlung um 10:45 Uhr unterbrechen, dann rufe ich dich an.«
»Ja, in Ordnung …« Das Freizeichen ertönte. Hope hatte aufgelegt.
Marian legte den Hörer weg und eilte zum Schreibtisch. Da lag ihr Adressbuch. Hoffentlich hatte sie Telefonnummern von allen, mit denen Lisa befreundet war. Ihr Magen verkrampfte sich vor Angst. Wohin
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