Im Blut vereint
war Lisa gestern Abend gegangen? Und warum hatte Hope noch nichts unternommen?
Das war genau das Verhalten, weswegen Marian die Anwältin aufgesucht hatte.
Sie schlug das Adressbuch auf und wählte.
Kate schloss die Bürotür hinter sich und setzte sich an den Schreibtisch. Es war 10:25 Uhr, auch wenn man das bei einem Blick aus dem Fenster nie geglaubt hätte. Der Regen hatte eingesetzt. Alles sah grau aus.
Sie griff zum Telefonhörer. Unter Herzklopfen wählte sie aufs Neue Marian MacAdams Nummer. Vermutlich hatte ihre Mandantin absichtlich nicht zurückgerufen. Aber Kate konnte nicht mehr warten. Sie musste dringend etwas unternehmen. Das hatte sie erkannt, nachdem sie am Morgen die Radiomeldung über den Mord gehört hatte. Lisa durfte es nicht so ergehen wie der toten Prostituierten.
»Hallo?«, meldete sich Marian MacAdam atemlos.
»Hier ist Kate Lange von
Lyons McGrath Barrett
.« Kate blickte auf die Nummer des Jugendamts, die sie auf ihren Notizblock gekritzelt hatte. Würde Marian MacAdam freiwillig dort anrufen, oder würde Kate ihr ein Ultimatum setzen müssen?
»Ja? Rufen Sie wegen Lisa an?«
Ihr Tonfall überraschte Kate. Sie hatte erwartet, dass Marian MacAdam hochmütig und zurückhaltend reagieren würde. Stattdessen hörte man ihr Verzweiflung an. Kate unterdrückte ihr Unbehagen. »Ja. Ich rufe wegen unseres Gesprächs letzten Freitag an …«
»Ich kann Lisa nicht finden«, stieß Marian MacAdam hervor. »Sie ist verschwunden.«
»Seit wann?«
»Ihre Mutter hat sie nicht mehr gesehen, seit Lisa gestern früh zur Schule gegangen ist. Sie hat behauptet, sie würde bei mir zu Abend essen, aber das war gelogen. Sie wusste, dass ich in meinem Ferienhaus bin.«
»Es geht ihr bestimmt gut.« Kate bemühte sich, beruhigend zu sprechen. »Sie wird bei einer Freundin sein.« Hatte Kate sich mit sechzehn nicht genauso benommen? Sich zu einer Party davongestohlen, im Auto ihrer Mutter, gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester? Ja, nur war damals alles schrecklich schiefgelaufen. Kate schob den Gedanken beiseite. Lisa hockte bestimmt mit einer Freundin zusammen und trieb sich auf Facebook herum.
»Ich habe schon alle Freunde angerufen. Niemand weiß, wo sie ist.«
In den Nachrichten hatte es geheißen, die Ermordete sei eine junge Prostituierte.
Und wenn das nicht stimmt?
»Hat sie denn gestern Abend jemand gesehen?«
Marian klang niedergeschlagen. »Wie es scheint, hat keiner ihrer Schulfreunde in den letzten Tagen mit ihr gesprochen.«
Kate wischte sich die Hände am Rock ab. »Haben Sie die Polizei angerufen?«
»Nein.«
»Das müssen Sie aber.«
»Ich möchte noch warten, bis Hope mich zurückruft. Sie wollte ihre Verhandlung um 10:45 Uhr unterbrechen.«
»Marian.« Kate suchte vergeblich nach den richtigen Worten und stieß endlich hervor: »Haben Sie heute schon Nachrichten gehört?«
»Nein.« Jetzt schwang Angst in ihrer Stimme mit. »Warum?«
»Eine junge Frau ist ermordet worden. Angeblich war es eine Prostituierte, aber …«
»Das kann nicht Lisa sein!«
»Aber Sie wissen nicht, wo sie steckt.«
»Sie ist doch keine Prostituierte!«
»Das weiß ich.« Kate versuchte zartfühlend zu sein, aber ihre Mandantin musste erkennen, wie dringend die Sache war. »Der Bericht könnte falsch sein. Mrs MacAdam, Sie müssen sich an die Polizei wenden.«
»Ich warte ab, bis Hope anruft. Vielleicht hat Lisa ja heute Vormittag versucht, sie zu erreichen.«
Der Griff nach dem Strohhalm. Ganz offensichtlich wollte sich ihre Mandantin einfach nicht vorstellen, dass etwas Entsetzliches passiert sein könnte. Kate warf einen Blick auf die Uhr. Es war 10:33 Uhr. Gleich würde Hope Carson anrufen. »Gut, in Ordnung. Wenn Sie mit Richterin Carson sprechen, richten Sie ihr bitte aus, dass sie die Polizei anrufen soll, falls sie nichts von Lisa gehört hat. Sonst wird es Ihre Anwältin tun.«
Kate legte auf. Jetzt war sie völlig sicher, dass es richtig gewesen war, Marian MacAdam anzurufen. Nur ahnte sie nicht, dass sie es zu spät getan hatte.
Das fand sie zwanzig Minuten später heraus. Marian MacAdam rief zurück. Sie konnte kaum sprechen. Lisa hatte sich nicht gemeldet. Doch von der Vermutung, Lisa könnte das Mordopfer sein, hatte Hope nichts wissen wollen. Stattdessen hatte sie verlangt, dass Marian auch frühere Freunde von Lisa ausfindig machte.
»Das ist Zeitverschwendung.« Marian schien der Verzweiflung nahe. »Lisa hat seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen.«
»Warum ruft sie
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