Im Blut vereint
denn nicht die Polizei an?«, fragte Kate. Hope Carsons Tochter wurde vermisst, und ein Mädchen war tot aufgefunden war – Kate begriff nicht, dass eine Strafrichterin da nicht eins und eins zusammenzählte.
»Weil sie dann zugeben müsste, dass sie keine Ahnung hat, wo ihre Tochter ist«, sagte Marian erbittert. »Sie will die Polizei nur einbeziehen, wenn es nicht anders geht. Zuerst sollen wir auf eigene Faust nach Lisa suchen.«
»Es ist zu spät, um sich darum zu sorgen, was die Polizei denken könnte. Wenn Lisa nicht …« Kate hörte Marian schluchzen und unterbrach sich. »Es tut mir leid. Aber Lisas Sicherheit hat oberste Priorität. Gerade ist ein Mädchen umgebracht worden. Wenn Lisa weiterhin unauffindbar ist, müssen wir uns vergewissern, dass ihr nichts passiert ist.« Kate griff nach dem Stift. »Ich brauche eine Beschreibung von ihr für die Polizei.«
Marian machte die nötigen Angaben mit ausdrucksloser Stimme. Als sie fertig war, schluckte sie schwer. »Und Sie rufen mich an, sobald Sie etwas erfahren?«
»Natürlich.«
»Ich kann das alles nicht fassen«, flüsterte sie.
Kate wusste genau, wie ihre Mandantin sich fühlte. Vor fünfzehn Jahren hatte Kate genau das Gleiche gesagt.
Sie legte auf und wählte Ethans Nummer, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
»Detective Drake.« Er klang angespannt.
»Ethan, hier ist Kate.«
»Oh Gott.« Er versuchte nicht, sein Erschrecken zu verbergen. Oder seine Wut. »Das passt jetzt gar nicht, Kate. Ich stecke mitten in einem Mordfall.«
»Ich rufe nicht wegen Freitagabend an«, sagte Kate schnell. »Sondern wegen der Prostituierten, die heute früh ermordet aufgefunden wurde. Ist das der Fall, den du bearbeitest?«
»Schon, aber wer hat behauptet, dass sie Prostituierte war?«
»So heißt es in den Medien.«
»Es steht noch nicht fest.«
Kates Herz setzte einen Schlag aus. Wenn das Opfer keine Prostituierte war, konnte es dann tatsächlich Lisa sein? Sie atmete tief durch. »Hör zu, die Enkelin meiner Mandantin wird seit gestern vermisst.«
»Wie heißt sie?«, fragte Ethan scharf.
»Lisa MacAdam.«
»Wie sieht sie aus?«
Kate las die Beschreibung vor: »15 Jahre alt, 1,65 m groß, 50 kg, dunkelbraunes Haar mit einem blonden Streifen in der Mitte …«
Ethan unterbrach sie: »Wie können wir die Angehörigen erreichen?«
»Oh mein Gott.« Kate musste schlucken. Sie presste den Hörer ans Ohr. »Ist sie das etwa?«
Bitte sag Nein. Wenn es einen Gott gibt, mach bitte, dass Ethan Nein sagt.
»Es hört sich jedenfalls so an.« Er klang ernst, aber auch erregt – eine beunruhigende Mischung. »Wer sind ihre Eltern?«
»Robert MacAdam und … hier wird’s brisant, Ethan: Ihre Mutter ist Richterin Hope Carson.«
Einen Moment herrschte bestürzte Stille. »Ach du Scheiße.« Leise fügte er hinzu: »Wir dachten, sie sei ein Straßenkind.«
»Nein. Nur ein vernachlässigtes Kind.«
»Hör zu, ich muss los. Wir müssen ihre Eltern herholen.«
»Richtig.«
Es folgte eine verlegene Pause. »Danke für den Tipp. Tut mir leid, dass es die Enkelin deiner Mandantin ist.«
»Mir auch.« Kate legte auf. Dann presste sie die Handballen auf die Augen. Wie sollte sie jetzt Marian MacAdam anrufen? Was würde ihre Mandantin sagen?
Letzten Endes sagte Marian MacAdam sehr wenig. Mit zitternder Stimme fragte sie nur: »Ist es Lisa?«
»Richterin Carson muss die Leiche noch identifizieren.«
Marian unterdrückte ein Schluchzen. »Ich verstehe.« Sie schluckte. »Ich muss Rob anrufen. Er ist in Singapur. Ich glaube … oh, verdammt!« Sie schluchzte erneut, und ihre Stimme erstarb.
Dann war nur noch das Freizeichen zu hören.
Kate griff nach ihrer Handtasche und lief benommen den Gang entlang zu den Aufzügen, ohne auf die verwunderten Blicke der Mitarbeiter zu achten. Sie stieg auf dem falschen Parkdeck aus und musste über die Treppe ein Deck hinaufgehen, um zu ihrem Wagen zu gelangen. Im Auto legte sie den Kopf aufs Lenkrad.
Warum hatte sie nicht eher beim Jugendamt angerufen? Hatte sie denn aus ihrer eigenen Vergangenheit nichts gelernt? Warum hatte sie gezögert?
Sie hatte sich von Marian MacAdams Behauptung beeinflussen lassen, es gebe keinen echten Beweis dafür, dass Lisa sich selbst Schaden zufügte. Aber das war nicht der einzige Grund. Es gab noch andere – Gründe, die sie sich nicht hatte eingestehen wollen, die sich ihr jetzt aber förmlich aufdrängten.
Jede Erkenntnis traf Kate wie ein Peitschenhieb.
Du hattest Angst,
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