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Im Blut vereint

Im Blut vereint

Titel: Im Blut vereint Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Callow
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ein Bier. Auf dem Couchtisch lag das Programmheft der Trauerfeier. Er griff danach und schaute sich das Bild von Lisa MacAdam eingehend an. Es war kein besonders gutes Foto; in Fleisch und Blut hatte sie ihm besser gefallen.
    Er schloss die Augen und strich mit dem Finger sanft über das Bild.
    Da war er schon wieder, dieser Drang. Schneller als sonst. Viel schneller. Normalerweise war er nach einer seiner nächtlichen Touren launisch und erschöpft, zog sich in sich zurück und war froh, wieder zu seiner Arbeit und seinem Alltag zurückkehren zu können.
    Heute war das anders. Er trank einen großen Schluck Bier.
    Es lag an der Trauerfeier. An all den jungen Mädchen, die er dort gesehen hatte. Junge, straffe Körper. Mit faltenloser Haut und glänzendem Haar. Sie hatten ausgesehen wie Puppen.
    Mit der Puppensammlung der sechsjährigen Nachbarstochter war er schon fertig. Zunächst hatte ihre Mutter ihr immer wieder neue gekauft. Und die hatte er auch gestohlen. Später warf die Nachbarin ihrer Tochter dann vor, sie gehe achtlos mit ihrem Spielzeug um, und ersetzte die Puppen nicht mehr.
    Also musste er seine Puppen woanders stehlen. Wie er schnell herausfand, konnte man im örtlichen Kaufhaus ziemlich leicht welche mitgehen lassen. Bei einem siebenjährigen Jungen vermutete niemand, er könnte hinter Puppen her sein.
    Wenn er mit ihnen fertig war, verbrannte er die arm- und beinlosen Rümpfe im Wald. Er sah gern zu, wie sich die Kunststoffhaare in der Hitze kräuselten und dann abfielen.
    Die Arme und Beine versteckte er in einem Schuhkarton unter dem Bett. Jeden Abend holte er sie vor dem Schlafengehen hervor und streichelte sie im Schutz der Bettdecke. Das glatte, biegsame Plastik unter den Fingern zu spüren, tröstete ihn und linderte den Hass auf seine Mutter. Bis zum nächsten Tag jedenfalls.
    Als er älter wurde, benutzte er die Gliedmaßen für etwas anderes.
    Etwas sehr Genussvolles.
    Bis Tim sie entdeckte.
    »Du verdammter Freak«, sagte Tim und griff sich ein paar.
    »Nein! L-l-lass das!«
    Sein Bruder kicherte. »Wenn du das ohne Stottern sagst, kriegst du sie wieder.«
    Dadurch wurde das Stottern nur schlimmer. Was sein Bruder genau wusste.
    Hilflos sah er zu, wie sein Bruder die mühevoll gesammelten Arme und Beine in seinen Fäusten zerquetschte. Wenn er sie nur zu fassen bekäme …
    »Sag es!«, verlangte Tim.
    Er schüttelte den Kopf.
    Sein Bruder schlug ihm mit den Plastikbeinen ins Gesicht.
    Das tat weh. Seine Wange glühte.
    Aber nicht dieser Schmerz machte ihn wütend. Sondern die Tatsache, dass sein Bruder seine einzige Freude benutzte, um ihm wehzutun.
    Die Wut übermannte ihn. »D-d-das z-z-z-z-zahl …«
    Tim lachte. »Das zahlst du mir heim?« Er fing an, die Gliedmaßen zu verbiegen. »Wie denn? Mithilfe deiner Puppensammlung?«
    Er warf die Arme und Beine auf den Fußboden und fing an, auf ihnen herumzuspringen. »Oooh, ich habe ja solche Angst. Die Püppchen meines kleinen Bruders könnten böse werden.« Als er mit seinem Zerstörungswerk zufrieden war, ging er zur Tür. »Dass ich nicht lache.«
    Tim verließ das Zimmer.
    Nie wieder hatte er eine Puppe gestohlen. Stattdessen hatte er begonnen, lebende Tiere zu fangen – Ratten, herumstreunende Katzen und Waschbären. Jahrelang arbeitete er so am lebenden Objekt und schulte seine Fähigkeiten, um eines Tages bereit zu sein für die ganz besondere Sektion.
    Die Zerlegung seines Bruders.
    Tims Beerdigung war einer der glücklichsten Tage seines Lebens. Seine Mutter weinte um den geliebten ältesten Sohn, das Genie in einer ansonsten jämmerlichen Familie.
    »Einem Genie muss man Opfer bringen.« Wie oft hatte er diesen Satz zu hören bekommen, wenn die Familie wieder einmal auf etwas verzichtete, damit der Erstgeborene, das Wunderkind, alles bekam, was er brauchte.
    Es wäre wunderbar gewesen. Wenn er selbst der Älteste gewesen wäre.
    Er war eher ein »Unfall« gewesen. Bei der Erinnerung verzog er den Mund. Unfälle gab es nicht. Es gab nur Fehler. Und seine Mutter hatte es nicht gemocht, wenn jemand Fehler machte. Sie hatte ihm ihr Missfallen auf die unterschiedlichsten Arten gezeigt; daran mochte er jetzt nicht denken. Sein Bruder hatte sich deswegen nie Sorgen machen müssen. Ihm war alles wie von selbst gelungen. Mit Leichtigkeit, Anmut und Präzision.
    Auf ihn selbst traf das Gegenteil zu. Außer wenn er eine Klinge zur Hand nahm. Dann bündelte sich seine Energie, und er bewegte sich nicht mehr unbeholfen, sondern

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